Freitag, 24. Dezember 2010

Israelisches Tagebuch 41

Liebe Freunde,

Glücklich– und Müde. Das sind die zwei Adjektive, mit denen man mein Leben zurzeit beschreiben kann. Die kleine meinem Leben gebende Sonne scheint aus dem Lächeln meiner Tochter, und rechtfertigt den Namen den wir ihr gegeben haben – Ori (auf Deutsch Orri, also mit einem kurzen "O"). Er bedeutet soviel wie "mein Licht" oder das Imperativ "Scheine!", was sie auch fleißig tut.

Die Geburt, die Krankenhausaufenthalt, die Rückkehr nachhause – das alles war noch so märchenhaft, so unglaublich. Der Moment, in dem den durch die wie ein Tag fliegende Woche in mir akkumulierten Gefühlsstau sich löste ereignete sich ein Paar Stunden nachdem wir endlich zuhause waren. Ich nahm Ori in meine Armen, legte eine CD von Emma Kirkby in die Anlage, und schaute wie die Augen meiner Tochter sich wundernd öffneten. Es können mir tausend Ärzte sagen dass Babys in dem Alter nicht in der Lage sind dieses oder jenes Wahrzunehmen – ich kann aber mit Sicherheit sagen, die bezauberten Töne des "Laudate Dominum" von Mozart streichelten ihre Seele, mit einer nur der Seele des geborenen Kindes ausweichende Reinheit. Ich schaute meine Tochter an, und habe geweint.

Liebe Freunde, ich werde Euch über Windeln, Schlaflose Nächte und solches später berichten. Jetzt aber will ich Euch, da die meisten von Euch einen Geburtstag eines anderen im Großraum Bethlehem geborenen Kindes feiert, ein frohes Fest wünschen, schöne Stunden mit Euren Familien und Freunden, und wenn Ihr heute ein Glas Glühwein trinkt – denkt an uns, an kleine Ori, und an ihre sie liebenden Eltern.

Frohe Weihnachten aus Israel,

Euer Ofer

Freitag, 26. November 2010

Israelisches Tagebuch 40

Liebe Freunde,

ein israelischer Sänger schlägt dumpfe Töne aus seiner Gitarre und ruft mit rauer Stimme nach Regen, es ist ein Lied aus den 90gern, aber immer wieder aktuell, "vielleicht hilft es," sagt die Nachrichtensprecherin im Radio, und meine Hand schwebt über den Klimaanlageknopf im Auto, um sich dann doch für das offene Fenster zu entscheiden. Es ist Ende November, eine angenehmen warme Luft streichelt mein Gesicht, ich fahre wieder durch die besetzten Gebiete zur Uni, hier gibt es ja keinen Stau, wie soll es einen geben, seitdem die Araber hier durchfahren dürfen haben die meisten Israelis Angst vor dieser Strasse.

"Wegen der Regenknappheit ruft das Hauptrabinneramt in Jerusalem zum allgemeinen Fasten am Montag auf," berichtet die Radiodame weiter, ich warte vor dem Checkposten, es kommt ein kurzer Moment der Panik weil einer der Autofahrer, den ich durch seinen Rückspiegel als einen älteren Nationalreligiösen Herrn identifizieren kann, wollte dem Soldaten in der Wachhütte einen Schokoriegel zuwerfen. Der arme Junge dachte, es sei eine Handgranate, und warf sich schreiend zum Boden.

Regen, gib uns Regen, schreit der Sänger weiter, 18 israelische Bauern sind mit einem Heißluftballon über ihre Felder geflogen und tanzten den berühmten Regentanz von "Honi Ha´maagel", ein alter heiliger der vor vielen Jahren Gott herausgefordert, um sich einen Kreis gemalt und gesagt hatte – bis es regnet, gehe ich nicht mehr aus dem Kreis heraus. "Der Korb von dem Ballon ist quadratisch, und Honis Kreis war ja rund – uns ist also zumindest die Quadratur des Kreises gelungen", knistert das Lachen eines Bauers mit einer Stimme, die so trocken wirkt wie sein Land.

Jetzt spricht ein Professor und sagt, seit Beginn der Wetteraufzeichnung vor 83 Jahren ist nie so wenig Wasser während des Monats November in den See Genezareth geflossen. Und ich denke mir – wer ist 1927 auf die Idee gekommen, das Wetter aufzuzeichnen, gab es damals nichts besseres zu tun, und wer weiß wie viel Wasser damals bei Honi geflossen ist, und ob es für ihn überhaupt von Bedeutung wäre, er hat sich wahrscheinlich einfach gern in seinem Kreis gedreht, und sowieso – ohne diese Aufzeichnung hätten wir ja eine schlechte Nachricht weniger.

Schabat Schalom aus Tel Aviv,

Euer Ofer

Mittwoch, 24. November 2010

Israelisches Tagebuch - Sondereintrag

"Erbe"

(Dieser Eintrag wurde in Zusammenhang mit der "Begegnungen" Reihe beim Goethe Institut in Tel Aviv geschrieben. Für Die Einladung, bei dieser Reihe mich und mein Tagebuch vorstellen zu dürfen, und vor allem für das Gefühl dass ich von Yael Goldmann und Dr. Georg Blochmann bekommen habe, für einen Tag mich wie ein echter Schriftsteller fühlen zu dürfen – samt Kordjacke – bin ich den beiden zutiefst dankbar.)

Es bleibt am Ende eine Frage, die mir des Öfteren gestellt wird, wenn ich über mein langes Aufenthalt in Deutschland erzähle, über meine Zuneigung gegenüber diesem Land, seinen Leuten, seiner Kultur – und seiner Sprache. Die Frage wäre gültig auch wenn es um, sagen wir, Namibia gehen würde, oder Island. Sie hat aber natürlich viel mehr Brisanz eben weil es sich um Deutschland handelt. Es gibt einen jüdischen Satz, der oft in Bezug auf Deutschland verwendet wird – nicht von seinem Honig, nicht von seinem Stachel. Der Stachel ist als Jude nicht vermeidbar. Der Honig aber, auf den wollte ich auch nicht verzichten. Also stelle ich mich der deutsch-israelischen Geschichte, mit all ihren Facetten. Und um auf die Frage zurückzukommen – wieso, also wieso Deutschland, bedarf die Antwort eine kurze Geschichte. Na gut, vielleicht doch nicht so eine kurze.

Diese Geschichte wurde immer zu Anlässen besonderer Nähe ausgepackt, wie zum Beispiel am Freitagnachmittag in der Jerusalemer Wohnung meiner Eltern, kurz vor der heiligen Schlafstunde. Sie wurde immer nur mir erzählt, dem musikalischen Nesthäkchen, vielleicht als Beweis für die (tief verborgene) musikalische Begabung unserer Familie. Da sie mir in mehreren Varianten erzählt wurde, je nach Lust und Laune, und da Ihr bedenken müsst – sie wurde von meinem Vater vor vielen Jahren erlebt, und von ihm dann an mich weitergegeben, und ich gebe sie jetzt weiter an Euch – also bekommt Ihr sie quasi über dritte Hand – könnt Ihr nicht allerernstes erwarten, sie würde eins-zu-eins zu den tatsächlichen Ereignissen passen, die ihr zum Grunde liegen. Sie ist also nicht frei von den Früchten der (lebhaften) Vorstellungskraft zweier Waldman-Generationen. Die Geschichte dieses Tagebuchs beweist aber, Ihr nehmt es mir nicht allzu übel.

Und jetzt, genug drum herum geredet – und zurück zur Geschichte.

Es war, so erzählt es mein Vater, am Anfang der 50gern. Die Waldman Familie lebte in einer Wohnung in der King George Strasse (Liebevoll genannt "Rechov hamelech King George Strasse", wobei "Rehov" Straße bedeutet, "Hamelech" – der König), unweit des vorläufigen Sitzes des israelischen Parlaments, der Knesset. Meine Großeltern stammten beide aus Wien (sie wurden in Wien aufgezogen. Geboren wurden sie ein wenig östlicher, darüber redet aber keiner, da "östlicher" in der damaligen Nachbarschaft von Rehavia zwangsläufig "niedriger" bedeutete), und so hat sich um sie ein kleiner Kreis bunter Typen versammelt mit Namen, die ich immer wieder von meinem Vater und meinen Tanten höre, wie der verrückte Tryphus, Tante Klara mit den obligatorischen drei Dackeln, und andere "Jekkes" ("Jekke" ist eine allgemeine Bezeichnung für deutschstämmige Juden, die Pünktlichkeit, Ordnungswahn, und eine gewisse – meiner Meinung nach natürlich gut begründete – kulturelle Arroganz bedeutet), deren durstigen Seele bei jedem deutschen Satz, aufgeweicht durch den Wiener Dialekt meiner Großeltern, dankbar aufging.

Eines Tages kam mein Großvater zurück nachhause, umgeben von einer Luft voller Feierlichkeit, in seiner Hand, mit braunem Papier umwickelt, eine große Pappkartonbox. Er balancierte die Box vorsichtig auf einer Hand während die andere seinen Hut abnahm, und ging in das Wohnzimmer. Meine Oma, mit ihrem scharfen Sinn für besondere Momente, eilte zu meinem Großvater, streckte ihren Kopf ihm entgegen um seinem aufgeregten Flüstern besser zuhören zu können, und nach einigen Sätzen von denen mein Vater nur einige "wooooos" und "jau mei….." verstanden hat, verschwand sie in ihrem Schlafzimmer, um fünf Minuten später heraus zu kommen mit ihrem besten, prächtigen Schabbat-Kleid angezogen und mit dem knappen Satz: "I bin mol weg."

Mein Opa setzte sich derweilen aufs Sofa im Wohnzimmer, seine Augen auf die Box fixiert, in seinen Gedanken verloren. Mein Vater benutzte die Gelegenheit um die Box etwas näher zu betrachten. Er musste nicht lange suchen bevor er das fand, wonach er gesucht hat – die Briefmarken, die meinen Papa damals brennend interessiert hatten. Komisch sahen sie aus, offensichtlich ausländisch, aber bevor mein junger Erzeuger seinem diebischen Plan nachgehen konnte hörte er die Wohnungstür sich öffnend, und gerade schnell genug war er um sich zurückzuziehen und der Kolonne Knutchen-Gebender Freunde seiner Eltern zu entkommen.

Natürlich hatte er die Szene weiter aus einer sicheren Distanz beobachtet, und zu seinem großen Verblüffen machte sich meine Oma erstmals an die Fenster, schließ sie und lies auch die Jalousien runter, um sich dann majestätisch zu ihrem Gatten zu setzten. Er, also der Gatte, also – mein Großvater, Meir Waldman, ein Wiener Rechtsanwalt und Zionist, wartete bis die Gesellschaft sich beruhigt hat. Alle waren sie da – der Tryphus, Tante Klara, der Onkel vom Erdgeschoss (über den meine Oma immer lässig sagte- Mog I net, Kenn I net, will I net.) und noch ein Paar, die mein Vater nicht kannte.

Mein Opa streifte die Box, einmal links, einmal rechts, und begann sie langsam zu öffnen. Bei jedem Reisgeräusch dachte mein Vater, sein Herz platzt gleich, da die Briefmarken beschädigt werden könnten. Aber als er den Gesichtausdruck meines Opas merkte, verging ihm dieser Gedanke. Was war da, auf dem Gesicht des alten Meir, das mein Vater auch heute, mehr als fünfzig Jahre später, immer noch ohne Worte lässt, aber voller Bewunderung? War das Sehnsucht? Heimweh?

Langsam ging die Box auf, alle hielten ihren Atem an, und mein Vater, der schon damals nicht so gut seinen Atem anhalten konnte, eilte um über die Schulter seines Vaters zu schauen. In der Box, nebeneinander stehend, waren längliche, schwarze Hüllen. Mein Opa nahm eine heraus, gab sie meiner Oma, die sich ans Grammofon machte. Aus der Hülle nahm sie eine LP heraus, legte sie auf die Drehscheibe, und setzte die Nadel darauf. Bald füllten merkwürdige, zauberhafte Klänge die kleine Jerusalemer Wohnung, und mein Opa, seine Augen voller Licht, schaute seinen Sohn an und sagte, "das, mein Sohn, was Du da hörst, ist die Matthäus Passion."

Und die alten Jekkes saßen alle da, und obwohl man sie nicht verdächtigen konnte, dem christlichen Glauben nachzuhängen, haben sie irgendwie gebetet.

Die Box soll noch irgendwo im Keller jenes Hauses an der King Georg Strasse stehen, die andere aber, die metaphorische, nahm mein Vater damals, packte die Sehnsucht, das Heimweh, die Deutsche Sprache (die er nicht spricht obwohl er jedes Wort, was ich sage, versteht) und die Kaffee-und-Kuchen Nachmittage, die Heinrich Heine Bänder, den Hut und das Gehstock meines Großvaters, legte sie behutsam zu den LPs von der Matthäus Passion, und klappte die Box zu. Er wusste vielleicht nicht, was er damit anfangen soll – er hatte vielleicht das Gefühl, die israelischen Sandalen und die Uniformen von den "Mezada" Pfadfindern die er stets trug, die so sehr von HIER waren und so wenig von DORT, könnten diese Box beschmutzen.

Aber jedes Mal, wenn die Jerusalemer Hitze wieder mal unerträglich wurde, wenn ein Schwarze Haiie uns bei der Schlange im Supermarkt wieder überholte, oder eben an jenen goldenen Freitagnachmittagen, lächelte mich mein Vater an und erzählte mir von dieser Box.

Für ein Kind wie mich hörte sich Deutschland wie ein Märchenland an. Ruhige, höfliche Menschen, die mit ihren Kindern ständig irgendwelche Konzerte besuchen, Bäckereien mit traumhaften Kuchen, und eine unvorstellbare Kultur, getragen in der kühlen Luft der Alpen. Vielleicht wollte er mich mit diesen Klischees trösten, mich vor einem harten Land und vor harten Menschen beschützen, ohne es zu merken aber pflanzte er in mir den Keim der Sehnsucht, des Heimwehs, jenes Heimweh das in meiner Familie stets von den göttlichen Klängen der Matthäus Passion begleitet wird. Diese Geschichten, diese Sehnsucht nach einem Land wo alles immer "in Ordnung" ist, lies meinen Vater als einziger wahrer Israeli da stehen, zwischen seinem Vater der seine Heimat nie vergas und seinem Sohn, mir, der sich nach einem Land sehnte das er nie kannte.

Liebe Grüße aus Jerusalem,

Euer Ofer

p.s. ich verspreche es Euch, über die Lesung von gestern zu schreiben, nun muss ich zum Dienst, die Kunst ruft…

Donnerstag, 11. November 2010

Israelisches Tagebuch 39

Liebe Freunde,

die Luft in Israel wird kühler, wenn ich nachts nach Jerusalem fahre muss ich mich sogar warm anziehen. In Deutschland duftet es jetzt schon langsam nach Zimt und gebranntem Zucker, hier schleicht sich ein Geruch eines ersten Regens – "Jore" heißt er hier – und an einigen Strassen stehen Orangenverkäufer mit den ersten Geschenken des Winters.

Gili und ich schweben in dieser winterlichen Luft, putzen unsere Wohnung, machen sie gemütlich und häuslich, weil – nun, weil wir ja bald Eltern werden. Schon jetzt springt mein Herz jedes Mal wenn das Handy mitten in einer Probe klingelt, wenn Gili etwas tiefer einatmet, wenn sie ihren Bauch hält, wenn sie nach mir ruft.

Darum geht es aber nicht in diesem Eintrag. Diesmal ist es was besonderes – da ich mal zur Abwechslung etwas von Euch hören möchte. Und zwar, weil das Goethe Institut Tel Aviv mich eingeladen hat, am 23.11 (Dienstag) über meinen Blog einen Vortrag zu halten. Ich freue mich und bin ein wenig nervös, zugegeben, ich habe ja als Hornist immer wieder Lampenfieber, was soll ich denn tun wenn ich mich nicht mehr hinter meinem Instrument verstecken kann? Jedenfalls, werde ich einige meiner Einträge dort vorlesen, und da es sich im Laufe des Jahres schon einiges an Material gesammelt hat, wollte ich Euch darum bitten, ein wenig Zeit zu nehmen, einiges durchzulesen und mir zu sagen welche Einträge Euch am besten gefallen. Ich bin für jede Reaktion dankbar – und freue mich auch natürlich zu hören, was Euch so gefällt - und was nicht.

Ich habe diesen Eintrag mit der Erwartung auf unser Kind eröffnet, weil es auch der Grund ist, weshalb ich so wenig schreibe. Ich befinde mich, sozusagen, in einer sehr schönen, aber nicht zuletzt nonverbalen Phase meines Lebens. Ich warte, halt.

Vielen Dank an alle, die mir eine Rückmeldung schicken werden, und danke auch an alle, die seit einem Jahr sich die Zeit nehmen, meine Gedanken und Texte zu lesen und somit mir weiterhin das Gefühl geben, ein Stückchen von mir lebt nach wie vor in Deutschland.

Als rieche es hier ein wenig nach Zimt...

Seid Alle lieb gegrüßt,

Euer Ofer

p.s. Die Rückmeldungen könnt Ihr als Kommentar hinterlassen, oder direkt an mich schreiben: oferwaldman@gmail.com

http://www.goethe.de/ins/il/tel/ges/de6748608v.htm

Montag, 25. Oktober 2010

Israelisches Tagebuch 38

Liebe Freunde,

ich beneide Euch. Vom tiefsten Herzen. "Wieder Ofer mit seinen tragischen Äußerungen", sagt Ihr. Aber nein, es geht hier nicht um Bier und Schnee, Wurst und TVK*. Es geht um viel mehr, es geht um Hoffnung, oder besser gesagt – um Hoffnungsträger.

Der heutige Beitrag fängt in einem kleinen Zimmer in Berlin-Kreuzberg an, vor ca. zehn Jahren. Kleines Öferchen, relativ frisch in Deutschland, saß bei seinem (inzwischen nicht mehr so) guten Freund T., und genoss ein wenig Alkohol und ein wenig andere Substanzen die dem Gesetz zwar fremd, dem berliner (oder eigentlich jedem) studentischen Dasein wohl vertraut sind. Es waren meine "jungfräulichen" Jahre in Deutschland, ich habe gerade angefangen Eure Sprache zu verstehen, und dieses Deutschland kennen zu lernen. Es hat sich damals auch ein Prozess der Desillusionierung in Gange gesetzt – wer meine Beiträge liest weiß, dass mein lieber Herr Papa mir so einiges über Europa und Deutschland erzählt hat, was ehr für die 30er passen würde (natürlich ohne die Bösen). Auf einmal sah ich mich mit der Realität konfrontiert, die Deutschen sind durchaus in der Lage, zu spät zu kommen, zu fluchen, mit offenem Mund zu kauen, und weitere solchen unvorstellbaren Scheußlichkeiten.

Zurück zu jener Kreuzberger Wohnung – während ich mich mit der damaligen Lebensabschnittsgefährtin (ich wollte dieses Wort immer schon schreiben) meines (wie gesagt, ebenfalls) damaligen guten Freundes unterhielt, öffnete sich die Tür, und eine Gestalt kam herein, die mich prompt zutiefst beeindruckt hat. Fades blondes Haar, rote Wangen, kleine, blaue wässrige Augen, eine Nase, die in der Regel mein Jahresgehalt kosten würde, und über allem, eine Art, lieber Gott, eine Art die allen im Zimmer sofort das verriet, was ich noch nicht mal ahnen konnte – dieser junge Mann wird mein Deutschlandbild retten, dieser junge Mann ist – tief atmen – ein Adliger.

WAS? Die gibt´s noch? Das muss wohl ein Scherz sein. Ich dachte aber…. Der Krieg…. Revolution…

Nein nein. Ich dachte falsch. Ich wollte es nicht glauben, also bat ich den jungen Herrn (meine Gesprächspartnerin musste mich davon abbringen, mich zu verbeugen) darum, mir seinen Personalausweis zu zeigen. Und da stand es (besser gesagt – da stand es nicht, da der Platz nicht ausreichend war) – ich kann mich heute nicht mehr an den ganzen wahren Namen erinnern, aber es war so was wie "Freiherr Baron Graf Prinz König Kaiser zu, von und über den Wolken". (es ist mir durchaus bewusst, ich zitiere hier Loriot. Mit höchster Achtung.)

Es sind viele Jahre seitdem vergangen, und ich habe mich inzwischen daran gewöhnt dass diese Relikte aus anderen Zeiten noch unter Euch leben, mit Namen so lang wie der Alexturm, adlig und schweigend, reich und, na ja, reich. Ich habe mich eine Zeit lang sogar mit dem Gedanken amüsiert, mich von so einem adoptieren zu lassen. Ich frage mich, ob es mir dann auch so erginge, wie jenem Freiherr Baron zu Guttenberg. Der lieber Freiherr bringt es ja auf den Punkt – einen geilen Namen muss man haben, kombiniert mit einem Schloss und einem Drachen in der Garage, und hopsala ist man ein Hoffnungsträger der gesamten Nation. "Ach, mon-chér", sagt von und zu zu seiner Gattin, die ebenfalls zu und von ist, "die letzten 90 Jahren waren ein Intermezzo, so wie beim letzten Konzert von Herrn Papa. Jetzt dürfen wir wohl wieder. Was denkst Du, soll ich Deiner Mutter zum Geburtstag Sachsen schenken?"

Wieso kann so was in Israel nicht funktionieren? Wieso kann ich, zum Beispiel, nicht "Ofer Frederik von der Galiläa, Herrscher über Israel, Bezwinger des Kamels" heißen? Damit würde ich es hier sicherlich zum Ministerpräsidenten bringen. Ach, Moment Mal – dafür müsste man hier aber auch die CSU einführen.

Vielleicht ein anderes Mal.

Bis dahin, seid mir alle lieb gegrüßt,

Euer

Ofer von und zum Orchestergraben



*Tarifvertrag der deutschen Kulturorchester

Dienstag, 19. Oktober 2010

Israelisches Tagebuch 37

Liebe Freunde,

ich schaffe es einfach nicht, einen durchgehenden, kohärenten Text zu verfassen. Meine Ideen überleben einen, zwei Sätze, um dann erschöpft sich auf den Punkt zu freuen. Aber ich kann doch nicht einfach einen Satz in die Welt schicken, dass käme einer Beleidigung gleich, was ich Euch aber um keinen Fall zumuten möchte.

Die andere Variante ist aber auch nicht allzu sonnig – nämlich das Schweigen. Ich bin Euch dankbar, dass Ihr Euch über meine langen Pausen nicht beschwert – es kann natürlich auch ein Zeichen dafür sein, dass Ihr wenig Interesse findet an dem, was ich schreibe. Diese Möglichkeit schließe ich natürlich kategorisch aus, und zwar – zugegeben – aus reiner Eitelkeit, jene Eitelkeit die jedem Hornisten bekannt ist, der davon ausgeht, die ganze Welt ist davon fasziniert dass er (oder sie) aus einem langen Rohr komische Töne produzieren kann. Na bravo.

Um dieses erwähnte Schweigen zu brechen, möchte ich Euch ein Paar solche Eindrücke des Alltags beschreiben, und zwar in kurzen Absätzen.

Schwangerschaftstraining

Gili hat es ernst gemeint – wir sollten hingehen, in das Tel Aviver Krankenhaus "Ichilow", um zu lernen wie das genau abläuft, also wie Kinder auf die Welt kommen. Ich erspare uns allen die Witze mit den Störchen, und doch kam ich mir vor wie auf einem National Geographic Set, als wir in das Trainingszimmer hineintraten. Laute Wale, und ich meine es lieb, der Naturschützer der ich bin, schwammen durch das Zimmer. Und genau wie bei National Geographic sind ihnen kleine Fische hinterher geschwommen, dünn und brüchig, vor allem aber bedingungslos ergeben. Ja Männer, wer meinen scharfsinnigen Humor nicht verstehen möchte, ich meine uns. Ihr kennt es alle aus Filmen, die Übungen mit dem Atmen, also erspare ich Euch die Einzelheiten. Die Lehrerin, eine nette Krankenschwester mit einem leichten russischen Akzent, fragte jedes Paar was sie erwarten. "Komisch", sagte sie, als es sich herausstellte dass die meisten im Zimmer ein kleines Mädchen erwarten (wir ja auch!), "heutzutage kommen mehr Jungs zur Welt."

Wie würdet Ihr als Deutsche auf diesen Satz reagieren? Wahrscheinlich würdet Ihr schon bei der Frage, was Ihr erwartet, stützen. Es ist ja in Deutschland unhöfflich so was zu fragen. Und überlegt Euch, wie ein Israeli auf diesen Satz reagieren würde? Ich zitiere das, was eine Mutter gesagt hat – und was wir alle dachten. "Na gut, wir brauchen ja Soldaten."

Mist, ich bekomme rote Augen.

Jahrestag

Es waren so viele Jahrestage in letzter Zeit, und ich habe sie alle unbeobachtet vorbeigehen lassen. Der 20 Wiedervereinigungstag (Gratuliere!) über den ich mich für Euch freue, und der erste Jahrestag meines Umzugs nach Deutschland. Ja liebe Freunde, es ist schon ein wenig mehr als ein Jahr her, seitdem ich nicht mehr allzu oft bei Euch weile (aber doch oft genug, muss man schon sagen). Einige meinen, ich sei versöhnlicher im Ton geworden, was meine Heimat angeht. Einige fragen, wann ich wieder komme. Erstaunlicherweise, kann ich dazu wenig sagen. Mein Blick ist jetzt fest auf die Geburt meiner Tochter gerichtet. Allein dieser Satz, "Die Geburt meiner Tochter", füllt meinen gesamten Horizont, und lässt wenig Platz übrig für Gedanken die mit "was wäre wenn…" anfangen. Der Bauch von Gili, so formuliere ich es, ist das Ausrufezeichen hinter dem Satz "wir leben in Israel!"


Begegnungen mit der Vergangenheit

Bei meinem vorletzten Deutschlandbesuch habe ich bei einer guten israelischen Freundin vorbei geschaut, die gerade eine Wohnung frischbezogen hat. Mit Stolz zeigte sie mir die saubere Küche, das große Wohnzimmer, und das Schlafzimmer, das einen komischen Winkel hatte. "Und hier", sagte sie, auf den Winkel zeigend, "könnte man sich ja einen Versteck einbauen, mit einem Doppelboden, so wie bei Anne Frank."

Ich gebe zu, der Gedanke war mir nicht fremd, so wie einigen anderen Israelis die in Deutschland wohnen. Es ist ein Instinkt, das Resultat jahrelanger Erziehung an israelischen Schulen, an denen man Geschichten über Geschichten hört, wie man sich in Deutschland verstecken musste. Es hat nichts damit zu tun, dass man denkt – es ist möglich, die Nazis kommen wieder. Meiner Meinung nach, ist Deutschland der letzte Ort an dem so was wieder passieren könnte. Und doch kann ich mich daran erinnern, als ich in meine Berliner Wohnung eingezogen bin und meine Nachbarn kennen gelernt habe, dass ich mich fragte – würden sie mich beschützen?

Und wenn wir schon mal beim Thema sind – meine Eltern habe mir ein Jahresabo für den "Spiegel" geschenkt. In der letzten Ausgabe stand ein Bericht über die neue Hitler-Ausstellung in Berlin. Ich zitiere: "Eine Kommode aus Hitlers Neuer Reichskanzlei wird schief aufgehängt, statt einfach auf den Boden gestellt; ein die "Volksgemeinschaft" im Krieg heroisierendes Ölgemälde wird schräg präsentiert."

Das wird es schon dem alten Nazi-Monster zeigen! Das nenne ich wahre Vergangenheitsbewältigung!

Sarrazin

Kennt Ihr den neuen Sarrazin Witz? Es gibt das jüdische Gen, auch wenn es sich manchmal versteckt. Es gibt aber auch einen versteckten deutschen Oberlippenbart.

Oh Gott, dieser Beitrag ist ja ganz schön düster geworden. Bitte entschuldigt mich – ich sitze den ganzen Tag und lese über Deutschland im Jahre 1945, was nicht gerade süße Gedanken hervorruft. Ich bemühe mich das nächste Mal!

Bis dahin, Alles Liebe,

Euer Ofer

Montag, 20. September 2010

Israelisches Tagebuch 36

Ein deutscher Moment (oder: Realitätsverlust im großen Stil)

Liebe Freunde,

ein guter Freund von mir der gerade aus Berlin zurückgekehrt ist hat heute früh bei uns vorbeigeschaut. Ich war nicht da, leider war ich gerade beschäftigt mithilfe meines Orchesters die vierte Mendelssohn gründlich zu vernichten, zum Glück aber war meine graziöse Gattin anwesend um ihn zu begrüßen und seinen Mitbringsel entgegenzunehmen. Was Schöneres hätte er aus meiner geliebten Stadt nicht bringen können. Nein, er hat keine Praline mitgebracht, auch kein Lübecker Marzipan (das wäre das Zweitbeste, übrigens). Nein nein, liebe Freunde. In der kleinen Plastiktüte die ich auf dem Flur entdeckt habe war sie, jungfräulich scheu und ängstlich, fremd wie ein Sarrazin auf dem Basar, eine wunderschöne Flasche "Augustinerbräu helles Bier". Oh Freude, oh Glück.

Ein solches Symbol der hohen deutschen Kultur kann man aber um Gottes Willen nicht einfach so in sich hineingießen. Das wäre ja barbarisch, fast wie die Weihnachtsganz (oder war das Ostern?) vor dem Fernseher zu verschlingen. Man muss die passende Atmosphäre schaffen, die richtige Ambiente (so wie die Neuberliner sagen), ansonsten würde man dem ganzen Akt ja was lächerliches, fast makaberes hinzufügen, und das Herz, statt sich zu freuen, würde nur an Schwere gewinnen.

Ich habe aber alles was man braucht, um die passende deutsche Realität um mich zu schaffen, der israelischen Umgebung ignorierend. Ich beschreibe Euch die nötigen Schritte die ich dafür unternommen habe. Als allererstes – Klimaanlage anmachen, und die Temperatur auf das Minimum (also 16 Grad) stellen. Diese Maßnahme (nicht zu verwechseln mit "Maasnahme", die kann es wahrlich nur in Bayern geben) dauert einige Minuten. In der Zwischenzeit muss man natürlich das einzige Bierglas, das während des Umzugs in das heilige Land nicht in tausend Stücken zerbrochen ist gründlich säubern. Als musikalische Begleitung sollte man kreativ sein, aber nicht zu plump – also nichts mit "Klappt die Hände zusammen und lasst uns fröhlich sein". Zu erhoben wäre an dieser Stelle auch falsch – also weg mit Beethovens sechsten. In meiner Sammlung bleibt dann die liebe Frau Dietrich, vielleicht mit "Ich weiß nicht, zu wem ich gehöre", oder doch die Comedian Harmonists mit "Mein kleiner grüner Kaktus".

Bei meinem letzten Besuch in Berlin, also vor ein Paar Wochen, habe ich auf dem Trödelmarkt so ein kleines Blechschild gekauft, das ich jetzt auf den Tisch stelle, auf dem eine DDR-Rennpappe zu sehen ist in Militärfarben, daneben einige NVA Soldaten, und darunter der Satz "Zum Schutz der Arbeiter-und-Bauern-Macht".

So. Jetzt hat das Zimmer die richtige Temperatur erreicht, und ich nehme aus dem tiefsten Winkel meines Kleiderschranks die Pullis, die ich in Israel niemals werde anziehen können, weil es hier niemals so kalt sein wird. Aber das Bild muss perfekt sein, also ziehe ich mir so eine H&M Kreation an, und nehme die kostbare Flasche aus dem Kühlschrank, und singe dabei fröhlich – "und wenn ein Bösewicht was Böses zu mir spricht, dann hol´ ich mir mein´ Kaktus und er sticht sticht sticht…"

Die nächsten Momente sind eigentlich zu intim, um sie schriftlich in alle Welt zu verbreiten. Selbst ich habe meine Hemmschwelle, und werde mit Verlaub den Moment des heiligen Zusammenkommens zwischen Mensch und Reinheitsgebot, zwischen flüssigem Glück und durstiger Seele nicht beschreiben.

Und jetzt sitze ich hier und versuche diesen Moment zu verlängern, in dem ich Euch diese Zeilen schreibe. Die Flasche steht leer neben dem Rechner, die goldene Farbe des Etiketts ist etwas verblasst, und große Tropfen die dem braunen Glas herunterrollen bezeugen von der nahöstlichen Luftfeuchtigkeit, derer Existenz meinem Fluchtversuch in eine andere Realität ein abruptes Ende setzt.

Im nächsten kulinarisch-philosophischen Eintag: Hummus in Berlin.

Bis dahin, seid alle lieb gegrüßt,

Euer Ofer

Donnerstag, 16. September 2010

Israelisches Tagebuch 35

Liebe Freunde,

"Shana Tova" – frohes neues Jahr, so begrüßt man sich in Israel an diesen Tagen. An dem 9 September endete das alte Jahr, und das neue – Nummer 5771 nach der jüdischen Zählung – hat begonnen.

Es ist lange her, seitdem ich einen neuen Eintrag geschrieben habe. Und wieder muss ich sagen, es hat nichts damit zu tun dass mein Leben hier in Israel etwa an Langeweile gewonnen hat. Ganz im Gegenteil.

Aber als allererstes muss ich gestehen, dass ich vielleicht ein wenig gelogen habe (ach, dieses Wort, "Lüge", ist in diesem Zusammenhang vielleicht ein wenig brutal. Sagen wir so – ich habe gewisse Informationen, die ich im Blog veröffentlicht habe, im Hinblick auf den Frieden mit meiner geliebten Frau Gili leicht, aber wirklich leicht verändert.) Als ich über "meinen guten Freund" schrieb, der die Gen-Tests machen musste um sicher zu sein dass er mit seiner Frau kein Kind mit drei Beinen und einem Talent zum Geigenspielen bekommt, habe ich das getan, was vielen von uns (vor allem denen, die ein wenig an einen Größenwahn leiden) ab und zu passiert – ich habe über mich in der dritten Person geredet. Na und? Ich bin mit mir meistens ziemlich gut befreundet, also kann ich mich ohne jegliches Bedenken als "meinen guten Freund" bezeichnen. Oder anders formuliert – Gili ist schwanger. Hochschwanger. Und mit hochschwanger meine ich, dass falls sie beim Schlafen sich auf die Seite dreht, bekommen wir Probleme die an die zurzeit heftig diskutierte Platzenge im Westjordanland erinnern.

Was soll man noch dazu sagen? Gili ist schwanger mit einem Kind, und ich bin mit einem Gedanken schwanger – und beide wachsen mit gleichem Schritt, sodass ihr Bauch und Mein Kopf langsam leicht zu verwechseln sind. Ich werde Papa. Ich? Man braucht schon ein gutes Stück jüdischen Humorsinns um an einen solchen Gedanken zu kommen. Ein Wesen wird mich in zweieinhalb Monaten anschauen, und von mir Erklärungen verlangen, wieso und warum und weshalb und wann und wie und wo? Spinnt Ihr alle oder wat? Geschweige denn dass ich im Kreissaal den großen Unterstützer geben muss. Den Mann, also. Aber ich möchte Euch bitteschön daran erinnern – Männer, also jene haarige, starke, leicht nach Bier und Schweiß duftende Gestalten, die in solchen Momenten wo so gewisse Sachen die normalerweise innerhalb des Körpers sind plötzlich ans Tageslicht kommen die Ruhe bewahren, also diese Männer werden in der Regel Holzfäller, oder LKW-Fahrer, oder ganz normale BKA Beamte. Aber sicherlich keine Hornisten. (liebe Hornisten, bitte nicht beleidigt sein. Ich bin leicht panisch, und meine es nicht persönlich. Der Horn-Michael aus Nürnberg zum Beispiel kann sicherlich, mit ein wenig positiver Energie, einen Baum mit seinen bloßen Händen entwurzeln).

Spaß beiseite, was soll ich sagen, schon jetzt bin ich der glücklichste Mensch in der ganzen großen Welt. Mehr kann ich darüber einfach nicht schreiben.

Und ansonsten?

Fast genau vor einem Jahr bin ich hierher gekommen. ("fast genau" ist übrigens sehr israelisch. Mein Gehalt reicht zum Beispiel "fast genau" um in Israel leben zu können, so wurde mir versprochen. Es fehlt lediglich "fast genau" nochmals das gleiche, um gleichzeitig, was für einen Wunsch, essen UND Miete zahlen zu können.) Vor ein Paar Tagen habe ich bemerkt, es sind 35 Grad und 300 Prozent Luftfeuchtigkeit, und ich schwitze nicht. Vielleicht ist mein Körper meiner Seele weit voraus? Oder vorher, auf dem Weg von der Uni zurück nachhause – ich habe einen anderen Fahrer elegant von Rechts überholt, ohne das leiseste Gefühl dabei zu haben, das Gesetz das ich gerade breche hat irgendwelche Bedeutung. Da war ich mit dem Polizisten, der die Szene von der Straßenseite sicherlich mitbekam, einer Meinung.

Und doch frage ich mich bei solchen Momenten – war es in diesem Leben, dass ich mit Frau P. in dem kleinen österreichischen Dorf Holunder für die Marmelade gepflückt habe? War ich das, der mit einem Motorrad quer durch Mitteleuropa, durch Berg und Alm, Feld und Tal geritten ist? Ich, der heute im Stau stand bei der Ausfahrt aus Tel Aviv und sich langsam in seinen Autositz dahin geschmolzen ist?

Das nennt man wohl Realitätsriss. Aber es gibt wirklich diese Momente hier, in denen ich mich laut frage – war Deutschland ein Traum? Ich nehme an, weil ich mir diese Frage auf Deutsch stelle, lautet die Antwort ganz einfach nein. Aber es kommen schon solche Situationen vor, wo ich es nicht für real halten kann, dass beide Lebensformen – der deutsche und der israelische – auf einem Planten existieren können.

Dieser Text ist nicht gedacht als eine Art "Zusammenfassung" des letzten Jahres, oder einen Rückblick. Ich bin ja erst "fast genau" ein Jahr hier, und so deutsch bin ich geblieben, dass ich den Tag vorm Abend nicht loben werde. Aber die Tatsache dass ich den Verb "Loben" verwende verrät Gutes.

Ich wünsche Euch, meinen lieben Freunden, ein wunderschönes, frohes, glückliches neues jüdisches Jahr, und uns wünsche ich ein baldiges Wiedersehen –

Bis dahin, macht es gut,

Euer Ofer

Donnerstag, 1. Juli 2010

Israelisches Tagebuch 34 (oder - über die Beziehung zwischen Ideologie und Alkohol)

Zionismus? Schnaps!

Wer von uns kennt es nicht – man will eine schöne Geschichte erzählen, sie seinen Zuhörern schmackhafter machen, spannender, bunter, aufregender. Ob die Wahrheit, also jene exakte, trockene Auslegung der Vergangenheit dabei manchmal auf der Stecke bleibt ist von weniger Relevanz. Wer hätte der Geschichte von David und Goliath geglaubt, wäre der erste ein gut ausgebildeter, dubioser und tricksreicher Krieger, der zweite ein bescheidender, gut aussehender, bescheidener Reservistenkämpfer von normaler Größe gewesen? Die Kunst die auf den Namen von Münchhausens zurückzuführen ist hat in der Tat eine lange Geschichte von "Realitätsschmücken" hinter sich. Diese Kunst lebt in jedem von uns, aber wenige haben sie so verfeinert, mit einer solchen Eleganz die Wahrheit ignoriert wie eine lästige Nebensache, wie meine Familie.

Ich schulde Euch eine Geschichte – das habe ich in einem der älteren Beiträge geschrieben – von der "Alija", also von der Migration meiner Familie aus Europa ins gelobte Land. Vor allem die Erzählung von den Eltern meiner Mutter, Alexander Levinger aus Budapest und Judith Kessler aus Jeroslaw (Poland), verdient es erzählt zu werden. Ich habe sie an einem Nachmittag in Jerusalem gehört von meiner Großmutter. Sie lebte damals bei uns, was ich damals als eine ungeheuere Störung empfand, da sie den ganzen Tag nichts anderes machte als drittklassige Romane auf Deutsch zu lesen und meine Freunde und mich, die sie dabei gestört haben, auf giftigem Polnisch zu fluchen. An jenem Nachmittag kam es aber zu einem versöhnlichen Moment zwischen uns, und so setzte ich mich zu ihr mit einer Tasse lauwarmen Tees und fragte sie – sag mal, Oma, wie ist es dazu gekommen dass Du und Opa nach Palästina emigriert seid? Welche tiefe Klugheit (die ich natürlich in meinen Genen zu spüren ahnte) hat Euch dazu gebracht, die bald brennende Erde Europas zu verlassen und in die entfernte, unbekannte britische Kolonie Euch umzusiedeln?

Erinnert Ihr Euch an von Münchhausen? Im Vergleich mit der Antwort die ich bekam und mit der Relation zwischen dieser Antwort und der Wahrheit, war der nette Baron ein blasser Anfänger. Ab hier zitiere ich meine damals über achtzig Jahre alte Oma.

"Ich bin in einer kleinen jüdischen Stadt im Süden Polands geboren. Wir waren eine große Familie, die Wert auf Bildung und auf das Kennen der ruhmreichen europäischen Kultur legte. In der Schule redeten wir Polnisch, zuhause – Jiddisch, und die Bücher, die unsere Mutter uns in die Hand gedrückt hat waren auf Deutsch. Als man in unserem Städtchen ein Zentrum der zionistischen Bewegung "Beitar" eröffnet hat, war ich eine der ersten, die sich dort anmeldeten. Ach, was waren das für spannende Zeiten! Wir haben Hebräisch gelernt und lange, heftige Diskussionen über die Zukunft der Juden in Europa und die jüdische nationale Verwirklichung in Palästina geführt. Das Feuer der Jugend, das Feuer des Zionismus brannte in unseren Augen und Herzen als wir über die Wege sprachen wie wir uns von dem exilhaften Hause unserer Eltern entfesseln und unsere ganze Kraft der aufgebauten alt-neuen jüdischen Heimat geben könnten. (Leider kann ich das nach Zwiebelhering und Kartoffelbrei riechenden Seufzen, dieses herrliche polnische "Ohhhjjj", mit dem meine Oma jeden Satz beendete, nicht beschreiben, obwohl es zu meiner Kindheitslandschaft gehört und bis heute von meiner Mutter, in Momenten tiefster Verzweiflung, ausgerufen wird)

Nach einigen Jahren war es soweit – ich bekam die Gelegenheit, Mithilfe illegaler Papiere die mich als die Frau eines bestimmten Herrn S. vorweisen, eines Herren der die Erlaubnis nach Palästina zu emigrieren hatte (die Grenzen wurden damals von den Briten dicht gemacht wegen der Unruhen zwischen Arabern und Juden im heiligen Lande) mich auf den Weg gen Süden zu begeben. Ich traf ihn am Hafen von Genua, und zusammen sind wir an Bord von einem alten Schiff, dessen knirschende Holzbretter Zweifel daran ließen ob es den Wellen des Mittelmeers standhalten könnte. Ein Paar Tage später war es soweit – der Kapitän von der "Hagana" (Vorläuferorganisation der israelischen Armee) rief uns an Bord, und so standen wir, Schulter an Schulter, unsere Sicht von dem Morgennebel und den Freudetränen in unseren Augen verschwommen, und warteten. Jeder wollte der erste sein der das Wort "Land!" rufen wird, auf Polnisch, Deutsch, Rumänisch, Ungarisch, Jiddisch, aber als es soweit war blieb der Ruf in dem vor Aufregung erstickten Hals stecken. Nach 2000 Jahren Exil standen wir vor den Toren des Orts unserer Sehnsucht, Palästina. Bis wir Anker werfen konnten tanzten wir am Bord bis der Kapitän, aus Sorge für den brüchigen Deck, uns zur Ruhe befehlte. Wir sind in Haifa angekommen, und als mein Fuß die heilige Erde berührte bin ich auf meine Knie gefallen um sie zu küssen, und heulte, laut und ohne Scham. (Und jetzt, alle zusammen – Ohhhjjjj!)

Am selben Tag lies ich mich von meinem Schein-Ehemann scheiden, und fügte mich einer Arbeitergruppe hinzu, die in Haifa und Umgebung Strassen baute. Mit diesen zwei Händen (sie streckte beide vom Alter gezeichneten Händen mir entgegen, und mir blieb nichts anderes übrig als meine Teetasse zur Seite zu legen, ihre zehn Finger lange zu betrachten und mit einem höfflichen "Ohhhjjj" bewundernd zu kommentieren) habe ich Strassen gepflastert, Häuser gebaut, Felder entsteinigt. Verstehst Du, Junge, hier war nichts, wir mussten alles von vorne bauen. Aber wir waren stolz darauf! Ich arbeitete bis meine Hände geblutet haben, bis der Rücken nicht mehr wollte, bis die Augen vor Müdigkeit zufielen. Eines Abends wollten wir uns von der harten Arbeit erholen und sind, eine Gruppe von zionistischen Mädels, in einen Arbeiterclub gegangen. Dort gab es Volkstänze, und Arbeiter aus der ganzen Gegend – darunter auch solche von dem nah liegenden Stahlwerk – haben sich in großen Kreisen zusammengefunden. Einer von diesen harten Burschen, ein Jude aus Budapest, lies mich nicht aus den Augen. Gesellschaftstänze waren verpönt, verboten, also bekam er keine Gelegenheit mit mir allein zu tanzen und zu reden.

Am nächsten Tag aber, als ich kurz vor der Dämmerung unser Quartier verlies, sah ich ihn – er stand dort die ganze Nacht und hat auf mich gewartet. Ach, was war er für ein schöner Mann, Dein Opa… Groß war er, mit zwei starken Händen und einem feurigen Blick (Ihr wisst schon, oder? "O….") und einer sonoren Stimme. "Judith, ich will Dich zu meiner Frau machen." So. Ohne Fragezeichen (es blieb zwischen Strassenpflastern und Heimataufbauen wenig Zeit für Fragezeichen übrig). Aber wer will da schon nein sagen? Und so sind wir, Dein Opa und ich, zusammengekommen. Wir bezogen eine kleine Arbeiterwohnung, wo auch Deine Tante und Deine Mutter zur Welt kamen. (Ich kann mich gut an die Wohnung erinnern – sie roch stets nach diesem Anti-Motten Zeug, "Naftalin" und nach der Pfeife meines Großvater, der auf dem Balkon saß und Krimis im illegal empfangenen libanesischen Fernsehen schaute). Dein Opa war der festen Überzeugung dass man den Briten im Kampf gegen Hitler helfen musste, also verlies er seine Arbeit beim Werk und stelle sich in den Diensten der RAF, der britischen Luftwaffe. Er war dort einige Jahre als Bodenpersonal in Alexandria (Ägypten) tätig, bis der Krieg gewonnen wurde und er zurück nach Haifa, zum Werk, vor allem aber zu mir zurückkehrte. Was für ein Mann, Junge, was für ein Mann.

Soweit die offizielle Erzählung. Aber wartet – bevor Ihr "Ausschneiden – Kopieren" drückt und die letzten Seiten an eine Hollywood Produktionsfirma schickt, solltet Ihr Euch in Geduld ausüben (sagt der Israeli) und bis zu dem überraschenden Schluss warten.

Es versteht sich dass meine Oma seit jenem Nachmittag in meinen Augen die Aura einer Heiligen bekommen hat. Wer würde, nach einem solchen turbulenten Leben, sich nicht zur Ruhe setzten wollen und drittklassige Romane lesen? Hat diese Frau, nach dem sie mit zwei Händen mehr oder weniger eine ganze Stadt aufgebaut hat, nicht das unangefochtene Recht von popeligen, lauten und unerzogenen Kindern nicht gestört zu werden? Im Gegenteil! Seit diesem Tag brachte ich Ihr lauwarmen Tee ohne dass sie danach fragte, ich kochte für sie Kartoffeln nach polnischer Art bis man die Knollen vom Wasser nicht mehr unterscheiden konnte, und ihren mit vielen C´s, Z´s und J´s Fluchwörtern begegnete ich mit einem warmen, verständnisvollen Blick.

Diese überraschende Wende in meinem bis Dato unmöglichen Benehmen meiner Oma gegenüber blieb bei meiner Mutter nicht unbemerkt. Eine kluge Frau wie sie ist, ahnte sie dass sich da was im Schilde führte, und so stelle sie mich eines Tages zur Rede, als ich grad dabei war tote Motten als Beweis meiner Treue zu der Oma zu sammeln.

"Aber Mama, Deine Mutter ist eine Heldin der Nation! Dein Vater wird für mich für immer und ewig eine Modelfigur für Prinzipien und Willenskraft sein! Weh mein junges Alter, dass ich ihn nicht lange genug erlebt habe!". Meine Augen glänzten vor gerechtem Zorn, und ich fühlte mich für eine ganze Generation jüdischer Pioniere beleidigt.

Ohhhjjj.

"Was hat sie Dir schon erzählt?"

Adieu jüdische Pioniere, adieu ängstliches Bangen am Bord eines hoffnungsvollen Schiffs auf den unruhigen Gewässern des Mittelmeers. Hätte mich meine Mutter nur in diesem Zustand süßen Bewunderns gelassen, mit einer genial konstruierten Erinnerung meiner Großeltern, dieser Giganten der Geschichte. Aber meine Mutter hielt nicht viel davon, und im Übrigen war sie auch nicht so glücklich als ich zu einem Geburtstag das Buch von von Münchhausen bekam. "Das muss er nicht lesen, das hat er schon im Blut" kommentierte sie lässig.

Ich gebe Euch eine kurze Pause vor dem kompletten Desillusionieren, eine Pause die meinem zärtlich halbwüchsigen ich nicht gegönnt war.

Wir fangen bei meinem Opa an, bei diesem tatsächlich wunderschönen Mann aus Budapest, mit den großen Händen und der Sonoren Stimme. Es ist auch nicht so dass meine Oma gelogen hat (nie, aber nie würde ich so was über meine eigene Familie zu sagen wagen), sie hat nur ein Paar Leitmotive aus der Realität genommen und sie etwas schöner, feiner zusammengefügt.

Als der Vater meines Großvaters aus dem großen Krieg zurückkam, in dem er gegen das zaristische Russland im Dienste des Kaisers gekämpft hat, war seine Frau, also meine Urgroßmutter, tot. Er trauerte ihr nicht allzu lange nach, und bald heiratete er eine neue, junge Frau, die meinen Opa nicht ausstehen konnte (was auf Gegenseitigkeit rührte). Nach einigen heftigen Streits ist der junge Alexander aus Budapest geflohen um sein Glück bei seinem Onkel in Bukarest, Rumänien, zu suchen. Sein eindrucksvolles Erscheinen brachte ihm viel Respekt ein, allerdings hauptsächlich in Spielsalons und Casinos, wo er sich gerne aufhielte. In einem aus der Kontrolle geratenen Spiel- und Saufabend fand sich mein Opa an einem Tisch gegenüber einem genauso wenig nüchtern britischen Offizier sitzend. Irgendwann, nach einigen definitiv überflüssigen Schnapsgläsern und nachdem sie schon keine Gegenstände mehr besaßen auf die sie hätten wetten können, fingen sie ein Gespräch über Palästina. Der britische Offizier huldigte die ruhmreiche britische Armee, die die Grenzen zu Palästina Wasser- Luft und Judendicht geschlossen machte. "Ach was, " sagte mein Opa, "in jeder Grenze gibt es eine Lücke." Der Engländer sah sich im Namen der Königin beleidigt, und verlangte eine sofortige Entschuldigung. Mein Opa blieb aber stur. "Ich schaffe es über die Grenze, darauf kannst Du wetten." Falsches Wort. "Wetten willst Du also?" fragte der Offizier. "Na schön. Es gibt eine mittelgroße Hafenstadt namens Haifa, im Norden von Palästina. Ich werde dorthin befohlen. Es gibt dort, unweit des Hafens, eine kleine Kneipe die ich schon mal besucht habe. Also pass mal auf – in einem Jahr, auf den Tag genau, werde ich Dich dort erwarten. Schaffst Du es, über die Grenze zu kommen – gewinnst Du die Wette, und ich besorge Dir eine Aufenthaltsgenehmigung und eine Stelle bei der britischen Armee. Falls Du dort nicht erscheinst, werde ich vermuten, Dir ist beim Versuch etwas zugestoßen. Abgemacht?"

"Abgemacht."

Liebe Freunde, zum Glück kann ich Euch berichten dass da ich lebe, mein Opa die Wette gewonnen hat. Er ist mehr oder weniger zu Fuß über die Türkei, Syrien und sogar Irak und Transjordanien ins (ihm nicht so) heilige Land gekommen, ohne von den englischen Grenzschützern geschnappt zu werden. Auf dem Weg, so erzählte mir meine Mutter, hinterließ er eine Spur von Vaterlosen Bastarden, also meine Halbonkels und Tanten, von denen nur eine sich mal aus der Türkei meldete.

Am besagten Tag erschien er in der Hafenkneipe, und traf den überraschten Offizier. Dieser blieb seinem Versprechen treu, und besorgte meinen Opa mit den nötigen Papieren und mit einem Job als Bodenpersonal beim RAF-Stutzpunkt in Alexandria.

Die Wochen, die mein Opa hatte bevor er nach Ägypten aufbrechen musste, verbrachte er beim Feiern und mit seinem Hobby als Fußballschiedsrichter (dafür habe ich sogar einen Beweis – eine alte Medaille mit seinem Namen drauf). An einem Abend ging er durch die Stadt spazieren, und seine Augen ruhten auf eine wunderschöne junge Jüdin aus Poland. Sie sind ins Gespräch gekommen, und nachdem er ihr seine Heldentaten fertig erzählt hat, wiederholte sie in seinen Ohren die Euch schon bekannte, an Ohhhhjjjj´s reiche, oben erwähnte Geschichte. In der kurzen Zeit die sie hatten, bevor er seine lukrative Stelle beim Militär antreten musste, heirateten sie im engen Kreise ihrer Freunde, die sie auf Ungarisch und Polnisch nur das beste wünschten, also eine baldige Einreise in die USA.

Kurz nach dem Ende des Krieges (das von zwei Ereignissen gezeichnet war – die, wie mein Vater es zu sagen pflegt, am selben Tag zur selben Uhrzeit geschahen – die Atombombe auf Nagasaki und die Geburt meiner Mutter) traf ein Bruder meiner Oma in Haifa an. Er wohnte kurz bei meinen Großeltern, und an einem Abend, nachdem meine Oma schon einschlief, saßen die zwei Männer auf dem Balkon, tranken, und wechselten Erinnerungen und Geschichten aus der Vergangenheit. Es war an diesem Abend, zwischen Schnapsgläsern und Wurstscheiben, dass mein Opa die wahre Geschichte meiner Oma gehört hat. Nachdem er seinem Schwager die offizielle, ihm bekannte Version zu Ende erzählt hat, herrschte kurzes Schweigen am Tisch.

"Ohhhjjj."

Meine Oma war eine wirklich wunderschöne Frau. Sie war so schön, dass sie in der Gegend ihrer Heimatstadt bekannt wurde. Und so sind einige polnische Offiziere aus der nah liegenden Festung in das Örtchen gekommen, um diese jüdische Schönheit mit eigenen Augen zu sehen. Meine Oma, eine wahre liberale Weltbürgerin, war nicht der Meinung dass nur koschere Augen das Recht auf ihr außergewöhnliches Aussehen hätten, und es verging nicht viel Zeit, oh die Schande, bevor sie von ihren Brüdern mit einem christlichen polnischen Offizieren, von Schnaps gefüllt bei einer ungünstigen Lage ertappt wurde. Ihre Eltern, außer sich vor Wut, reagierten schnell, und so fand sich die junge Judith – von ihrem Krzysztof gerissen – mit dem besagten Herrn S. verheiratet, auf einem Schiff ins Ungewisse.

"Also war es kein Zionismus, der sie hierher führte?" fragte der sich leicht betrogen fühlende Ungar.

Der Bruder, der ein paar Jahre später seinen Weg ins wahre gelobte Land von New York gefunden hat, hob seinen Blick und gab eine Antwort, die die kombinierte Familiengeschichte der Levingers/Kesslers elegant und zutreffend beschreibt:

"Zionismus?! Schnaps!"

(Nachwort:

Ich bin nie dazu gekommen meine Oma mit dieser Version der Ereignisse zu konfrontieren. Es ist auch wahrscheinlich besser so. Jetzt, wo ich selber einige Male über das Meer hin und her zog, weiß ich diese so menschliche Schönheit der wahren Geschichte zu schätzen, sowie dieses Bedürfnis, das eigene Leben etwas heldenhafter aussehen zu lassen. Und unter uns, ehrlich gesagt – finde ich es auch viel aufregender, das lebende Resultat einer Wette, einer verbotenen Liebesaffäre sowie einiger Gläser Weingeist zu sein. Zumindest habe ich eine feine Geschichte die ich meinem Nachwuchs erzählen kann, gleich nachdem ich ausführlich berichten werde, wie ich einst eine Stelle bei den Berliner Philharmonikern aufgegeben habe um Gili aus der irakischen Gefangenschaft zu befreien.)

In diesem Sinne,

Ohhhjjjj!

Euer Ofer

Sonntag, 27. Juni 2010

Israelisches Tagebuch 33

Liebe Freunde,

es ist nicht einfach, den Spagat zwischen dem Persönlichen und dem Politischen hinzukriegen. Die letzten Einträge beschäftigten sich ja hauptsächlich mit meinem Land, mit dem Aktuellen, und nicht mit dem gewöhnten "ich habe dies gemacht, und jenes gesehen". Ich weiß auch dass es inzwischen viele gibt, die diesen Blog lesen, die mich gar nicht kennen, und meine Texte als eine Art "israelische Botschaft" auf Deutsch verstehen.

Dieser Blog entstand aber um meinen Freunden in Deutschland über mein Leben hier in Israel zu berichten, um den Kontakt zu erhalten, und – und das gebe ich zu – mir das Gefühl zu geben, durch deutsche Worte mein deutsches Leben aufrecht zu erhalten. Vielleicht sollte ich einfach eine gute Mischung finden, ein bisschen besetzte Gebiete und ein bisschen Hornspielen an der Oper, Palästinenser und Kollegen, UNO und Familie.

Vor einigen Tagen habe ich einen zehn jährigen Jungen unterrichtet. Normalerweise, wenn man mich hier anspricht ob ich Unterricht gebe, geht es um die deutsche Sprache. Es gibt hier viele, die sich eine goldene Zukunft in Deutschland ausmahlen, die sich in großen Konzertsälen sehen, mit Namenhaften Dirigenten und in Euro ausgezahlten Gehältern. Also muss ich mich an meine ersten Schritte auf Deutsch erinnern, und ihnen beibringen dass es "das Glas steht auf dem Tisch" aber "ich habe das Glas auf den Tisch hingelegt" heißt, also Akkusativ – Maskulin – Singular und so was. Der Junge aber, den ich unterrichtet habe, ist der Sohn eines Kollegen, und er braucht einen Hornlehrer. Da er in einer Stadt wohnt die an der Strecke zwischen Tel Aviv und Jerusalem liegt, habe ich ihn auf dem Weg zu meinen Eltern, die ja in Jerusalem leben, besucht.

Ich erspare Euch die Einzelheiten, obwohl sie horn-technisch sehr spannend sind. Dieser Junge ist aber so alt wie ich es war, als ich mit dem Hornspielen anfing. Ich habe ihn angeschaut, wie er mit seinen großen Augen und dam für ihn viel zu großen Horn da saß, und habe mich, wie soll es anderes sein, an mich erinnert. Er ist begabt – er spielt auf jeden Fall besser, als ich damals, und wenn er weiter so macht wird aus ihm eines Tages ein richtiger Hornist werden. Aber was dann? Ich kenne ja diese Laufbahn. Ich weiß wo sie hinführt. Sie führt ins Ausland. Sie führt ins Exil. Vielleicht denkt Ihr, es ist lächerlich sich so was zu denken bei dem ersten Unterricht von einem zehnjährigen, aber ich konnte es nicht vermeiden. Er saß da mit seinen neugierigen Augen und hat Fragen über Fragen gestellt, er wollte wissen wie es ist, Hornist zu sein, und wo ich studiert und gespielt habe. Und ich dachte mir – sei nicht zu neugierig Junge, frag nicht zu viel, nicht dass Du Dich eines Tages in einem anderen Land findest, oder schlimmer, dass Du Dich wie mich fühlst – fremd in Deinem eigenen Vaterland.

Darf ich mich nochmals entschuldigen wegen meiner zu sentimentalen Art? Ich bin nun mal ein Israeli…

Ich habe eine gute Mischung versprochen, also gehe ich ins Aktuelle rüber, ich habe nämlich ein Paar Anekdoten für Euch gesammelt, die ich sehr amüsant finde. Zum Beispielt, ein Straßenschild, das so lustig ist, das es sogar ein Bild davon in "Haaretz" Zeitung gegeben hat. Es handelt sich um ein Schild an der Straße 443, zwischen Jerusalem und Tel Aviv. Es ist nicht die normale Straße, die jeder kennt, sondern die, die durch die besetzten Gebiete führt (und wenige Staus und Radarkontrollen hat). Neulich hat das oberste Gericht ein Urteil ausgesprochen, wonach es auch für Palästinenser erlaubt sein soll durch diese Straße zu fahren. Es ergibt aber das Problem, dass Israelis sich verfahren könnten, und in palästinensische Dörfer hereinfahren könnten. Das sollte man aber als Israeli vermeiden, es kann ja bös ausgehen. Also hat man ein Schild hingestellt – mitten in dem, was mein Ministerpräsident "Das ewige Land unserer Vorväter, das Versprechen Gottes zu Abraham" nennet – mit der einfachen Worten – "Israeli, wenn Du soweit gekommen bist, hast Du Dich verirrt". Die Möglichkeiten, in diesem Satz versteckte Botschaften zu finden, sind ja annährend grenzenlos. Ich verzichte aber darauf, und überlasse es Eurer Vorstellungskraft.

Eine andere Anekdote handelt sich um eine Radiowerbung für Brillen. Es ist nun mal so dass viele Israelis immer noch ein Problem mit Deutschland haben, was man ja verstehen kann. Unter diesen Leuten gibt es aber oft solche, die dann einen Benz fahren, oder eine AEG-Waschmachine zuhause haben, oder einfach ihr tägliches Joggen mit "Adidas" genießen. Es erinnert einen ja an den Witz mit dem Juden, der in Deutschland zum Metzger geht. "Ich will den Fisch da bitte haben" sagt er. "Oh, es ist aber Schwein", sagt der Metzger. "Ich will nicht wissen, wie der Fisch heißt", erwidert der Jude.

Die Radiowerbung, übrigens, lautet ungefähr so: "Es gibt französische, englische, amerikanische, italienische Brillen, aber nur Zeiss Jena haben die deutsche Qualität. Zeiss Jena – garantierte deutsche Qualität." So eine Werbung, in dem größten Radiosender Israels, ist wirklich mit Aufmerksamkeit zu betrachten. Vielleicht mit den Brillen "mit deutscher Qualität" wird man hier den Unterschied zwischen Fisch und Schwein besser erkennen können.

Gute Nacht aus Tel Aviv,

Euer Ofer

Montag, 14. Juni 2010

Zusatzbeitrag zum Tagebuch 32

Liebe Freunde,

Ich verspreche es mir immer wieder, meine Texte nicht gleich zu schicken wenn ich sie fertig geschrieben habe, um sie ein wenig reifen zu lassen. Leider kann ich dieser Versuchung nie widerstehen, und so passiert es oft dass ich im Nachhinein mir einen Kopf mache ob ich dieses oder jenes anders hätte schreiben sollen. Genauso war es heute. Ich habe Euch den Text geschickt und bin losgefahren. Auf dem Weg zurück nach Hause von meinem Konzert dachte ich mir, vielleicht scheint es so als ob ich Euch mit aller Kraft ein düsteres Bild von meiner Heimat malen möchte. Ich habe in einem meiner Einträge schon darüber geschrieben – über den Unterschied zwischen einem Text, der an Deutsche geht, und einem der an Israelis gewandt ist. Auch wenn alles was ich Euch schreibe die bittere Wahrheit ist, gibt es auch andere, tröstende Seiten dieses Landes. Und darüber möchte ich Euch jetzt schreiben.

Wir waren heute, Gili und ich, auf eine Hochzeit eines Freundes eingeladen. Die Trauung fand in Jaffa statt, südlich von Tel Aviv (eigentlich heißt die Stadt hier Tel Aviv-Jaffa, das sagt aber kein Mensch. Es steht nur auf den Parkzetteln, die man hier sehr oft bekommt) in einer Kirche. Es war die Hochzeit eines christlichen arabischen Freunds, der, der im Mittelpunkt von Gilis erstem Film steht.

Für mich sind "Kirche" oder "Christen" etwas aus Deutschland, etwas was ich aus endlosen Konzerten kenne, mit "Elias" von Mendelssohn oder mit dem "Deutschen Requiem" von Brahms, und mit endloser Kälte die aus Steinfußböden strömt. Ich hatte also ein wenig das Gefühl gehabt, als ich die Kirche betreten habe, als sei ich im Ausland. Dabei sind die christlichen Araber hier ihrem Glauben gefolgt als man in Deutschland noch die Sonne und den Mond angebetet hat.

Die Kirche war voller Menschen in festlicher Kleidung, kleine Blumenmädchen haben Rosenblätter auf den Boden geworfen, und eine alte Frau hat mit ihrer magischen Stimme christliche Gebete auf Arabisch ins Mikrofon gesungen. "Abuja", dieses Wort erkannte ich auf den Wellen der arabischen Musik, "Unser Vater" (also Eurer), und die Gemeinde murmelte wie ein Mann "Imeen". Der Priester, ein junger Griechisch-orthodoxer Gottesmann, legte zwei Kronen auf die Köpfe des jungen Paares, die mit einer Perlenkette aneinander verbunden waren. Dann gingen sie alle, das Brautpaar, der Priester und die Blumenmädchen, Hand in Hand, um den Altar. Man konnte das knistern der inzwischen von der Hitze völlig ausgetrockneten Rosenblätter unter ihren Sohlen hören, als ob die Gebete der alten Frau von einer alten Schallplatte kämen.

Ich habe versucht diesen Moment mit all seiner Facetten wahrzunehmen, in mir zu speichern. Es waren aber zu viele Eindrücke auf Einmal, zu viel Bedeutung. Ein jüdischer Israeli in einer Kirche in Israel auf der Hochzeit eines arabischen Freundes… es ist einfach zuviel. Ich habe es also seinlassen, und war einfach ein Mensch der sich für das junge Glück eines Freundes freut. Und in diesen Tagen, mit diesem verzweifelnden Gewalttanz um uns, ist das auch ein Funke von Hoffnung. Und diese sind zurzeit eine Rarität.

Mit diesem tröstenden Gedanken wünsche ich Euch eine schöne Woche,

Euer Ofer

Sonntag, 13. Juni 2010

Israelisches Tagebuch 32

Ich sitze im Auto und warte auf Gili, mein Kopf nach hinten gelehnt, die Augen geschlossen. Draußen wird die Stadt von der Sonne gebacken und von der Feuchtigkeit, die vom Mittelmeer strömt, erstickt. Ich parke schräg auf dem Bürgersteig, um die Zeit an dem Ort gibt es keine Parkplätze, außerdem braucht Gili ja nur fünf Minuten um irgendwas zu holen bevor wir weiter fahren können, Richtung Jerusalem.

Es ist Freitagnachmittag, die Schabbat kommt und Israel wird ruhiger. Aus dem Radio kommt leise indische Musik, tiefe, monotone Flötenklänge, mit einer trauernden Frauenstimme, und ich denke an das Gespräch, das Gili und ich auf dem Weg hierher geführt haben.

Wir versuchen unseren Sommerurlaub zu planen, wir wollen (außer Deutschland, natürlich) auch Irland besuchen, Dublin und Belfast, und müssen die Zeit dafür freimachen. "Wann ist Spielzeitschluss bei Dir?" fragt Gili. "Wann ist Deine Schule zu Ende?" erwidere ich. "Wann ist das Finale der Fußballweltmeisterschaft?" fragt sie erneut, und ich sage – zehnter oder elfter Juli. Gili denkt kurz nach, schaut mich an, und sagt – "im Radio hat man gesagt, zwei Tage nach der Meisterschaft gibt es einen Krieg. Denkst Du, wenn wir in August fliegen, wird es schon wieder in Ordnung sein?"

Schlagt Eure Terminkalender auf, und merkt es Euch – zwei Tage nach der Fußballweltmeisterschaft, also am 13.7.2010, gibt es einen Krieg. Man übt schon fleißig, hier und bei den Nachbarn. Es ist halt immer so, der Nahe Osten gibt der Welt die Ruhe, um die Spiele genießen zu können, danach ist aber vorbei. Zwei Tage nachdem die Italiener ungerechterweise den Cup in Berlin hochgehalten haben, entführte die Hamas Gilad Schalit. Zwei Tage später entführte Hisballa drei Israelische Soldaten, eine Tat die den Anfang des (zweiten) Libanonkrieg markiert hat. In allen Zeitungen, im Fernsehen, im Radio, in langen Diskussionen in hohen Etagen der israelischen, syrischen, Libanesischen Regierungen, sagen Menschen mit Anzügen – Mitte Juli. Dann geht es los.

Und ich sitze im Auto, und schaue um mich herum. Menschen gehen durch die Strassen, springen von einem Schatten zum nächsten, telefonieren, tragen kleine Kinder, essen Falafel. Wen wird es in einem Monat treffen? Den da, mit der kurzen Hose und dem Hund an der Leine, vielleicht auf den Hügeln Libanons, oder am Stand von Gaza? Oder die ältere Dame mit dem Eis in der Hand und einem breiten weißen Strohhut gegen die Sonne, von einer Rakete oder Splitter auf dem Weg zum Supermarkt getroffen? Sie sind unter uns, die Menschen die im nächsten Krieg sterben werden, ahnungslos führen sie ihr Leben, in Tel Aviv und Beirut, in Gaza, Ramallah und Jerusalem. Sie lesen die gleichen Zeitungen, lesen dass ihre Politiker wissen dass es bald zum Krieg kommt, lesen die klugen Texte der Analysten, die viele Gründe nennen die einen Krieg unausweichlich machen, und tun nichts dagegen. Wenn sie doch wüssten, sie sind in einem Monat dran, würden sie doch schreien, sie würden demonstrieren, es ist doch unbegreiflich, Ihr da oben wisst dass unsere Zeit gezählt ist, macht aber trotzdem nichts dagegen? Wie kann so was nur möglich sein?

Gili steigt in das Auto, gibt mir einen kleinen Kuss auf die Wange, und wir fahren los. Heute Abend gibt es ein Abendessen bei meinen Eltern, morgen hat Gili Dreharbeiten und ich muss für die Uni lernen. Sonntag gehen wir auf die Strassen. Ganz sicher.

Küsse aus Tel Aviv,

Euer Ofer

Montag, 7. Juni 2010

Israelisches Tagebuch 31

Liebste Freunde, teuere Freunde,

ich will mich bei Euch bedanken. Vom tiefsten Herzen bedanken. Euere Reaktionen und Kommentare, von Florian und Thomas aber auch die vielen Emails die ich seit dem letzten Eintrag bekommen habe haben mich sehr berührt. Es ist nicht einfach zurzeit hier zu sein – es ist nicht einfach sich zurzeit Israeli zu nennen, und die Hoffnung zu behalten, man hat Freunde im Ausland die sich von einem nicht abwenden. Auch wenn in einigen der Emails harte Kritik zu lesen war – die ich auch gerne als öffentliches Kommentar begrüßen würde – fand ich die Tatsache, wie man Thomas geschrieben hat, dass man miteinander kommunizieren kann, tröstend.

Ich bin grad zurück aus der wüste gekommen, wo wir fast zwei Wochen lang "Nabucco" von Verdi gespielt haben. Wir waren von der Außenwelt abgeschnitten – der Beitrag, den ich am Freitag geschrieben habe, entstand aus einem kurzen Besuch zuhause bevor ich wieder gen totes Meer fahren musste. Ich habe kaum die Nachrichten gelesen oder gehört, und ich muss zugeben, es war für mich wie eine Erholung. Als ich am Montag zum ersten Mal gehört habe, ein Schiff wurde gekapert und 9 Menschen sind dabei ums Leben gekommen, ist mir schwarz vor Augen geworden. Die Flut von Nachrichten, die danach kam, blieb mir zum Teil also erspart.

Eine gute Freundin aus den USA schrieb nach dem letzten Beitrag – stell Dir vor, es wäre ein israelisches Schiff vor der Küste der Türkei, und die türkische Armee hätte neun Israelis umgebracht. Was hätte Israel dann gesagt oder getan? K., meine Freundin, hat mit dieser Frage einen wunden Punkt getroffen. Stellt Euch vor, es wäre Eurem Land passiert.

(Bevor ich weiter schreibe möchte ich einen Punkt ganz deutlich und klar machen. Die Blockade des Gaza Streifens, sowie die ununterbrochene Besatzung und Ansiedlung der palästinensischen Gebiete sind ein Verbrechen, das unter anderem in meinem Namen ausgetragen wird, von einer Regierung die blind, dumm, ängstlich, und deshalb auch böse handelt. Es ist der Sinn der Demokratie – ich habe zwar Netanjahu nicht gewählt, trage aber als israelischer Staatsbürger die politische Verantwortung (über die schon Karl Jaspers geschrieben hat in seinem Buch "Die Schuldfrage") für die Taten und Misstaten meiner Regierung. Ich demonstriere, ich schreibe diesen Blog als eine vernünftige Stimme Israels, ich versuche Unrecht da zu verhindern, wo ich es sehe. Alles was ich schreibe steht keineswegs in irgendwelcher Diskrepanz zu dieser einfachen Tatsache – die Blockade des Gaza Streifens ist ein Verbrechen. Punkt.)

Auf der einen Seite sagt man, natürlich hat jedes Land das Recht, seine Grenzen zu schützen, und darf eine solche Aktion, die das ausgesprochene Ziel hat das Landesgesetz zu brechen zu stoppen (oder wie ein israelischer Offizier einen amerikanischen Kollegen gefragt hat – was würden die Amerikaner tun, wenn ein solches Schiff nach Guantanamo segeln würde?). Auf der anderen Seite sagt man, kein Land hat das Recht Menschenleben zu nehmen, vor allem nicht wenn es sich um Friedensaktivisten handelt. Stellt es Euch vor – dieses Gefühl – Ihr kennt es vielleicht von dem Fall, als der eine deutsche Offizier in Kunduz, Afghanistan, das Befehl gegeben hat das zu dem Tod von vielen Zivilisten geführt hat (ich weiß dass es hier einen enormen Unterschied gibt. Aber ich wollte etwas aus der nahen Vergangenheit holen, und ich glaube, es ist bezeichnend wie Deutschland mit diesem Fall umgegangen ist)h. Man sagt sich – ein Soldat aus meinem Land kann so was doch nicht absichtlich machen. Die Marinesoldaten, die in der Dämmerung auf das Schiff "Marmara" gegangen sind, darunter mein Freund, waren dort nicht mit der Absicht, Menschen umzubringen. Das kann und will ich nicht glauben. Die Tatsachen, die nach und nach aus den verschiedenen Untersuchungen hervorgehen, auch von diesen der türkischen Regierung, zeigen deutlich dass es auf diesem Schiff anderes lief als auf den anderen Schiffen, weil eine bestimmte Gruppe von fanatischen Islamisten die zum Teil sogar Geld für diesen "Job" bekommen haben sich dort gesammelt hat, die das einzige Ziel hatten – die Soldaten zu attackieren und provozieren, weil sie wussten – die Soldaten werden reagieren, und es wird zu einem Eklat kommen. Und so war es auch. Es ist beschämend, dass solche Menschen sich hinter Friedensaktivisten verstecken. Es ist furchtbar, dass Menschen mit ihrem Leben dafür bezahlt haben.

Ihr könnt Euch Israel grad nicht vorstellen. Man ist auf die ganze Welt wütend, überall hört man ultra-nationalistische Parolen. Auf dem Heimweg habe ich hier in Tel Aviv ein Plakat gesehen, so groß wie ein halbes Fußball Feld, in Form der israelischen Fahne mit der Schrift – "Mitten im See, unser Herz ist mit Euch". Auf diesem Plakat, was auf Strassenhöhe hängt, haben viele Menschen noch was dazu geschrieben. "Die Welt soll sich f…n", "Was macht die Türkei mit den Kurden?", "Es ist egal was die Welt sagt, es ist wichtig was die Juden tun", "Was ist mit dem Armenischen Holocaust, Herr Arduan?" und so weiter.

Ich komme zurück auf die Kommentare, die ich für den letzten Eintrag bekommen habe. Ich bin mir sicher, einige werden erneut sagen – Du rechtfertigst das, was Dein Land getan hat. Du schreibst, die Menschen auf dem "Marmara" waren Terroristen, deswegen war der israelische Angriff in Ordnung.

Beides ist aber, zumindest zum Teil, richtig. Einige der Menschen auf dem "Marmara" waren Terroristen. Wenn man mir sagen will, sie waren "Friedenskämpfer" sage ich den berühmten Satz – kämpfen für den Frieden ist wie Ficken für die Jungfräulichkeit. Wer den Frieden bringen will, der soll mit Worten, mit Artikeln, mit Demonstrationen sich ausdrücken – nicht mit Metallstangen und Messern. Wer gewalttätig handelt, will keinen Frieden. Weder in Irak, noch in Afghanistan, noch bei uns. Auf der anderen Seite, finde ich es verbrecherisch, den Gaza Streifen unter Blockade zu halten mit der Begründung, die Hamas hat den entführten Soldaten Gilad Schalit noch nicht freigelassen. Obwohl ich es nicht verstehe, wieso die Welt in diesem Punkt schweigt – dieser junge Soldat sitzt seit vier Jahren ohne einen einzigen Besuch von dem Roten Kreuz bekommen zu haben – ist die Tatsache seiner Entführung keine Rechtfertigung für das Errichten des "Gaza Ghetto".

Dieser Blog ist aber nicht dazu da, um sich darüber zu streiten wer Recht hat. Wenn Ihr mich fragt, hat sowieso Keiner Recht. Arduan will wegen interner Angelegenheiten den Helden für die islamische Welt spielen, die israelische Regierung und Armee handeln brutal und dumm, geführt von einer Paranoia die sich auf den einfachen Grundsatz beruht – die Welt hasst uns – und die Welt reagiert zum Teil scheinheilig weil es viel einfacher ist mit Israel zu schimpfen als zum Beispiel die USA, die NATO oder Russland zu kritisieren.

Wer aber zurück auf der Stecke bleibt ist das palästinensische Volk in Gaza, diese 1.5 Millionen Menschen die nach wie vor hinter einem Zaun sitzen und darauf warten, dass die Welt Israel ganz einfach sagt – das dürft Ihr nicht machen. Wir sind nicht Iran. Wenn man uns mit Sanktionen drohen wird, werden wir die Grenze aufmachen. Ohne einen Schuss. Ohne einen Toten.

Aber jetzt weht ein böser Wind in Israel. Die Stimmen die sagen – wir müssen mit der Welt und nicht gegen sie arbeiten, werden immer leiser. Man ist überrannt von einer Welle des nationalen Fanatismus, überall ist man "Stolz" und "Patriotisch", die Politiker streiten unter einander wer die Armee besser huldigen und die Araber als eine große verbrecherische Bande bezeichnen kann, man schreit lauter und lauter, als ob man damit die Angst vertreiben will, die Angst die man bekommt wenn man liest dass die Türkei es plant ihre Kriegsmarine hierher zu schicken, wenn man liest, die Hisballa im Norden bekommt mehr und mehr Raketen, wenn man liest, Iran hat in Kürze die Atombombe, aber vor allem wenn man liest wie Freunde aus aller Welt sich von uns angeekelt abwenden.

Ich sage immer, ich liebe mein Land. Das tue ich auch. Dieser Satz ist für einige Deutsche schwer zu verdauen. Ich sage immer, ich bin ein Patriot. Aber vor diesem Patriotismus des Schreiens und Hassens habe ich die größte Angst. Die Welt darf sich jetzt von uns nicht abwenden, grade jetzt nicht. Die Welt soll direkt mit den Israelis reden – nicht mit ihrer Regierung – und sie zur Vernunft bringen. Wenn man Israel jetzt überschütten wird mit Hass und Abneigung, wird man sich nicht wundern dürfen wenn in einigen Jahren sich hier eine Mischung aus Südafrika der Apartheidzeit und Iran entsteht. Es ist unsere Verantwortung als Israelis, diesen Gang der Dinger von Innen zu verhindern. Wir brauchen aber Eure Hilfe. Die Angst hier ist zu groß, die Hass Welle ist zu dunkel. Allein schaffen wir es nicht.

Ich drücke Euch ganz fest und sehne mich nach einer Zeit, in der ich Euch wieder von Ölbäumen, Konzerten und Strandgängen berichten kann.

Euer Ofer

P.S. (es wird ein langer P.S. sein): Auf dem Konzert heute Abend applaudierte das Publikum so lang, dass wir den Chor der hebräischen Sklaven, "Vapensiero" (das habe ich sicherlich falsch geschrieben) noch Einmal spielen mussten. Ihr kennt vielleicht den Text – er handelt um die jüdischen Sklaven in Babylon, die sich nach ihrer verlorenen Heimat sehnen. Der Dirigent, Daniel Oren, ein orthodoxer Jude der in Italien arbeitet, schlug dem Publikum vor, mitzusingen. Das müsst Ihr Euch mal vorstellen. Vor der Massada, dieser alten jüdischen Festung in der Wüste, sitzen 6500 Israelis, darunter ich, und singen ohne Worte zusammen über ihre Sehnsucht nach Zion. Und ich dachte mir, wir sehnen uns nach Israel, nach einem unschuldigen, verlorenen Israel, das es hier mal gegeben hat, bevor wir den Weg verloren haben. Damals, vor tausenden von Jahren, haben wir den Weg zurück zu uns gefunden. Mögen wir es dieses Mal auch schaffen.

Freitag, 4. Juni 2010

Israelisches Tagebuch 30

1.5 Millionen Menschen sitzen im Gaza Streifen, unter israelischer Blockade. Die Arbeitslosigkeit beträgt dort 50 Prozent. Diese Menschen leben von der Hilfe der UNO, und von den wenigen humanitären Anlieferungen die Israel durch die Checkpoints zulässt. Die Grenze zu Ägypten ist auch gesperrt. Unter ihr laufen Tunnel, durch die man Lebensmittel, Arzneimittel, Zigaretten, und Waffen in den Streifen liefert.

In dem Gaza Streifen sitzt seit vier Jahren der von der Hamas entführte israelische Soldat Gilad Shalit. Seit neun Jahren schießen die palästinensischen Organisationen, die in Gaza tätig sind, wie Hamas, Al-Qaida und Islamischer Jihad Raketen auf Israel, manchmal mehrere an einem Tag. Als Reaktion darauf startete Israel vor einiger Zeit die Operation "Gegossenes Blei", in der über 1300 Palästinenser ums Leben kamen, die meisten davon Zivilisten.

Vor einigen Tagen wollte eine Gruppe von Friedensaktivisten die Sperre brechen. Sie erhielten Unterstützung von der türkischen Regierung, und sind mit sechs Schiffen aus der Türkei, über Zypern, Richtung Gaza gesegelt. In diesen Schiffen saßen Menschen aus aller Welt, darunter Bundestagabgeordnete der Partei "Die Linke", Araber, Europäer, Amerikaner, Israelis und Palästinenser. Auf dem größten Schiff, "Marmara", befand sich auch eine extremistische islamische Organisation aus der Türkei, mit dem Ziel, die israelische Marine zu provozieren.

Auf internationalem Gewässer stoppte die israelische Marina die sechs Schiffe, nachdem die israelische Regierung ihre Durchreise nach Gaza abgelehnt hat. Bei fünf Schiffen protestierten die Menschen passiv und friedlich gegen die Aktion der israelischen Marinasoldaten, ohne Gewalt anzuwenden. Auf dem sechsten Schiff, "Marmara", warteten auf die israelischen Marinasoldaten die Mitglieder dieser extremistischen Organisation. Die Soldaten, die einen friedlichen Protest erwartet haben, wurden gleich bei ihrer Ankunft auf dem Schiff mit Messern, Metallstangen, Ketten, Granaten, und anderen Mitteln angegriffen. Die Soldaten wurden dann verletzt über Bord geschmissen. Als einige der Aktivisten die Waffen der Soldaten von ihnen gerissen haben, eröffneten ihre Kameraden das Feuer. Neun Menschen sind ums Leben gekommen, viele wurden verletzt.

Die ganze Welt reagierte schockiert. Einige Länder brachen die diplomatischen Beziehungen zu Israel ab. In der Türkei sprach man von "Unserem 9.11". In vielen Ländern wurden israelische Botschaften von Demonstrationen umzingelt. In der Weltpresse sprach man von dem Blutbad auf hohem See. Präsident Obama zeigte sich für eine internationale Untersuchung bereit. In ganz Israel gab es Spontane Demonstrationen, auf denen man die Armee unterstützen wollte. Die Regierung wurde heftig kritisiert für die Art und Weise wie diese Aktion durchgeführt wurde. Man fühlt sich in der Meinung bestätigt, die ganze Welt hasst uns. Der palästinensische Präsident Abbas stoppte die Friedensverhandlungen mit Israel auf unbestimmte Zeit. Die Güter, die sich auf den Schiffen befanden, wurden durch die israelischen Checkpoints in den Gaza Streifen geliefert. Es befanden sich dort Rollstühle, Medikamente, und Spielzeugkisten.

Die Israelische Regierung strahlte Bilder aus jener Nacht aus, in denen man den Angriff der Soldaten auf das Schiff sehen konnte, und die gewalttätige Reaktion der Aktivisten am Bord.

Vielleicht habt Ihr diese Bilder gesehen, von dem einen Soldaten der über Bord geschmissen wurde, nachdem er von einem der Friedensaktivisten durch ein Messer im Bauch schwer verletzt wurde.

Dieser Soldat ist ein Freund von mir, und liegt im Krankenhaus. Er wird es überleben. Derjenige, der ihn angegriffen hat, ist tot.

Im Gaza Streifen sitzen immer noch 1.5 Millionen Menschen unter israelischer Blockade.

Viele in Israel beschimpfen jetzt jeden, der sich "Friedensaktivist" nennt. Man nennt uns "Verrätern", "Terroristen". Die Bewegung, die innerhalb der israelischen Gesellschaft stattgefunden hat Richtung Gesprächbereitschaft, ist verschwunden.

Die Welt ist voller Hass gegen Israel. Israel ist voller Hass gegen die Welt. Die Friedensverhandlungen wurden gestoppt. Mein Freund und viele seiner Kameraden liegen im Krankenhaus. Neun Menschen sind tot. Viele sind verletzt.

Eine Erfolgsbilanz einer Friedensmission.

Was soll ich Euch schreiben? Seit Tagen stelle ich mir diese Frage. Soll ich, wie viele der Israelis, Euch die Frage stellen – was würde Euer Land tun? Gibt es in unserer Welt, in der heutigen Sensationspresse einen Platz für eine differenzierte Meinung? Für einen Satz den man nicht auf 5 Sekunden bei CNN beschränken muss? Darf man schreiben, meine Regierung ist dumm, feige und verbrecherisch, diese "Friedensaktivisten" aber waren gar keine echten? Dass man Frieden nicht mit Gewalt erreichen kann? Hat man vergessen, in unserem Konflikt und in der ganzen Welt, wer Gewalt sät, der wird auch Gewalt ernten? Kann man in einem Satz sagen, die Blockade von 1.5 Millionen Menschen ist und bleibt verbrecherisch, geneuso aber wie der Missbrauch einer Friedensmission durch eine terroristische Vereinigung?

Darf man sich über die Blindheit seines eigenen Volks beklagen, und über die Scheinheiligkeit vieler in der ganzen Welt?

Darf man die Frage stellen, was die Welt davon erwartet, wenn man Israel jetzt gegen die Wand drückt? Ob man davon den erhofften Frieden, für den meine Freunde und ich und Millionen in der ganzen Welt arbeiten, für den Millionen in der ganzen Welt beten, erreichen wird? Glauben die Menschen, die 1.5 Millionen Menschen in Gaza Streifen als Geisel nehmen, glauben die Menschen, die mit Gewalt auf unsere Soldaten mit Messern losrannten, sie bringen damit den Frieden näher?

Hört jemand überhaupt noch zu?

Weine Gaza, weine Israel, weine Welt.

Euer Ofer.

Freitag, 28. Mai 2010

Israelisches Tagebuch 29

Liebe Freunde,

mein Gott, welche Aussagen habe ich bei den letzten zwei Beiträgen benutzt, so plump und direkt, "ich will deutsch sein", na so was. Seit 10 Jahren versuche ich es subtil zu sagen, mit leichten Anmerkungen, oder wie es der fantastische Moritz Bleibtreu mal gesagt hat, "(es) muss im Subtext mitschwingen". Er meinte zwar was anderes damit, trotzdem wollte ich mein Auskennen in der hohen deutschen Kultur zur Schau stellen, und dies mit einem Zitat aus dem Film "Lammbock". Man man man.

Es wäre vielleicht besser, ich würde damit aufhören meine betrübte Seele hier offen darzulegen und mich wieder darauf konzentrieren, Euch von der (unmöglichen) israelischen Realität zu berichten, sodass Ihr wisst was ich mache wenn ich nicht grad bei Euch "drüben" spiele, singe oder tanze.

Also.

In einem der ersten Beiträge habe ich darüber geschrieben, wie sehr es die Israelis mögen, daran erinnert zu werden dass sie sich eigentlich im ständigen Krieg befinden, oder zumindest in irgendeiner Art Notzustand. Ich hätte nicht gedacht dass die Regierung diese Sucht, man kann es nicht anderes nennen, öffentlich unterstützen würde, am Mittwoch wurde ich aber eines besseren belehrt.

Ich fuhr von einer Probe Richtung Jerusalem, zur Uni. Es war ein schöner Tag, die Vögel zwitscherten fröhlich, die Autofahrer hupten sich gegenseitig freundlich an, am Eingang zum Jerusalemer Stadtteil Scheich Jarach wünschten Rechts- und Linksaktivisten der jeweiligen anderen Seite einen qualvollen Tod, und ich freute mich auf eine spannende Vorlesung über den Vergleich zwischen den deutschen Vertriebenen aus Danzig und den palästinensischen Vertriebenen aus Jaffa.

Mein Autoradio war an, und auf einmal sagte die Sprecherin – "liebe Zuhörer, wie Ihr wisst, findet heute eine Bombenalarmübung statt. Also nicht erschrecken, es wird jetzt überall im Land ein Bombenalarm ertönen. Wenn Ihr Zuhause seid, so flieht bitte in aller Ruhe in den Bombenkeller, wenn Ihr aber im Auto sitzt, könnt Ihr entspannt weiterfahren." Wie freundlich, dachte ich mir. Also entspannte ich mich, ließ die Autofenster runter, und wartete. Und da kam es.

An diesem Punkt muss ich Euch was erzählen – Ihr kennt solche Alarme entweder aus Erzählungen aus dem großen Krieg oder aus Filmen. Ich aber habe schon als 11 jähriger Junge den Golfkrieg miterlebt, als Saddam Hussein uns feurige Grüße aus dem Zweiflussland schickte. Mann kann sich diesen Klang kaum vorstellen. Er ist überall, und doch weiß man nicht woher er stammt, er verbreitet sich gleichgültig wie flüssiges Blei, ohne erkennbare Anfang und Ende. Rauf und runter, Raketen aus Irak, Bomben aus Libanon, rauf und runter, Gedenktag an gefallene Soldaten oder an Holocaustopfer, rauf und runter.

Damals, im Winter 91´, haben wir Kinder uns mit zwei Dingen beschäftigt. Das erste war natürlich wessen Gasmaskenbox die schönste war (meine natürlich! Meine Schwester hat sie für mich dekoriert!), und was die verschiedenen Alarmsignale bedeuten. Dieses Gebiet der Schreckenmusik hat sich sehr entwickelt seit den 40gern in Deutschland, damals gab es ja lediglich nur Alarm und Entwarnung. In Israel gibt es eine ganze Palette von Signalen, und da ich derjenige bin der in der Familie das musikalischste Ohr hatte, war es meine Aufgabe zu erkennen was sich in der Spitze der irakischen Rakete befindet die sich auf den Weg zu uns gemacht hat. Ruhige Rauf und Runterwellen bedeuten ganz normale Bomben, schnelle rauf-rauf Signale sind chemische oder biologische Waffen (oder wie meine Oma es zu sagen pflegte damals, als sie versucht hat mir durch die Gasmaske Apfelsaft zu geben – Erkältungsraketen), und (soweit ich mich erinnere, es ist schon ziemlich lange her) rauf mit einem Triller oben – Atomwaffen. Als Jerusalemer haben wir übrigens ziemlich schnell erkannt, der liebe Saddam hat Angst davor die heiligen Städte zu treffen, also hat er Jerusalem verschont. Nach ungefähr einer Woche gaben wir uns nicht mehr die Mühe, in das "Sicherheitszimmer" zu gehen, sondern haben lediglich die Fenster aufgemacht sodass sie von den Druckwellen, die die Antiluftraketen der Amerikaner die in der Nähe von Jerusalem stationiert waren erzeugt haben, nicht zersprengt werden.

Ach ja, die Kindheit war schon was Feines. Aber zurück zur Gegenwart, wo ich in meinem Auto sitze und dem Klang der Alarmübung zuhöre. Und auf einmal, unerwartet, ist mir übel geworden, meine Hände fingen an zu schwitzen, mein Mund wurde trocken, und mein Herz raste wie verrückt. Rauf und runter, runter und rauf, es ist nur eine Übung, was ganz normales, ich dachte an die bunte Gasmaskenbox in dem Keller meiner Familie, rauf und runter, mit der Atropinspritze und dem Ersatzfilter, runter und rauf, es ist nur eine Übung, wie sanfte Wellen schaukelte mich das Alarm noch ein Paar mal bevor es verschwand, ohne erkennbare Anfang und Ende.

Liebe Grüße aus Israel,

Euer Ofer

Dienstag, 18. Mai 2010

Ergänzungsbeitrag zum Tagebuch 28

Direkt nachdem ich den letzten Eintrag geschrieben habe, vor etwa sechs Stunden, bin ich mit Gili ins Auto gestiegen und nach Jerusalem gefahren.

Während der Fahrt dahin, und vor allem während der Fahrt zurück, durch die feuchte Nacht, habe ich an das gedacht, was ich geschrieben habe. Auf Einmal dachte ich mir, vielleicht habe ich einen Irrtum begangen, indem ich nur die Freunde aus der Nürnberger Horngruppe erwähnt habe. Das ganze Staatstheater, vom Personalbüro bis zu den Kantinenmitarbeitern, sogar mein alter irakischer Freund vom Hauptmarkt, sie alle haben mich mit offenen Armen in Nürnberg empfangen. Und was ist mit den ganzen Berliner Freunden? Mit M., bei der ich jedes Mal wohne, die für mich meine deutsche Familie ist? Was ist mit den ganzen Freunden aus der Nachbarschaft in Prenzlauer Berg, was ist mit A., die mich über so lange Strecken in meinem Leben in Berlin begleitet hat? Was ist mit meinen Lehrern und Kommilitonen aus der Uni? Wieso haben sie es nicht verdient, erwähnt zu werden?

Bevor ich die Antwort schreibe, die ich für mich gefunden habe, muss ich eine Feststellung machen. Ich lösche nie etwas, was ich in diesem Tagebuch schreibe. Diese Texte sind nicht nur dazu da, Euch davon zu berichten was ich so mache und sehe in Israel, oder um den Kontakt nach Deutschland zu erhalten. Sie sind auch dazu da um mir zu helfen, diesen krassen Wechsel in meinem Leben zu verarbeiten, zu verstehen. Deswegen wird nie was gelöscht oder verändert. Und jetzt zu meiner Antwort.

Es gibt in der Tat eine Sache, die meine Verbindung zu der Horngruppe in Nürnberg von all den anderen Verbindungen unterscheidet. Ich bin, wie Ihr alle wisst, Israeli. Ein großer Teil von mir wollte (und will immer noch) deutsch sein. Ich wurde die ganzen Jahre von einem Gefühl begleitet, von einem Wunsch, dazu zu gehören. Deswegen versuche ich immer wieder den Berliner Dialekt zu sprechen, obwohl es F. immer tierisch auf die Nerven geht und er es lächerlich findet. Deswegen saß ich im Frankenstadion und habe gesungen "FCN, come again, Sieg für Sieg, Tor für Tor…", deswegen hing eine Deutschlandfahne an meinem Roller während der 2006 WM. Aber in all den Freundschaften die ich in Deutschland hatte, war ich entweder Ofer, oder ein Israeli. Nicht dass ich wie einen Fremden behandelt wurde – um Gottes Willen. Ich wurde wie einen Freund behandelt, ja bei einigen wie ein Familienmitglied – aber ein Deutscher war ich nie, werde ich auch nie sein.

Es gab aber einen Ort, bei dem ich ein sehr starkes Zugehörigkeitsgefühl hatte – einmal dürft Ihr raten wo. Man darf nicht vergessen – mein erstes, offizielles Ziel in Deutschland war es, als ebenbürtigen Hornisten dort akzeptiert zu werden, und in eine Horngruppe aufgenommen zu werden. Dieses Gefühl hatte ich in keinem der Orchester, bei denen ich in Berlin gespielt habe. Bei den Nürnbergern aber, in diesen Momenten wo wir zusammen musizierten, wo wir zusammen Schnaps getrunken haben, Kicker gespielt haben, miteinander geredet haben, da war ich ein Teil einer deutschen Horngruppe, und war, ganz einfach, glücklich. Da habe ich dazu gehört. Als Freund und Kollege. Und dafür bin ich meinen Freunden aus dieser Gruppe sehr dankbar. Es ist auch kein Wunder dass der Ort, an dem mir der Wiedereintritt in die israelische Atmosphäre am schwierigsten fällt, die neue israelische Oper ist. Für mich ist Oper gleich Deutschland, darüber habe ich ja auch schon einiges geschrieben.

Eine lustige Geschichte will ich Euch zum Abschluss erzählen – heute, bei der Probe, wollte ich aufs Klo. Leider war die Tür zu, und man konnte nicht erkennen ob jemand drin war oder das Klo einfach zugesperrt war. Ich habe also zwei drei Mal geklopft, und nach kurzer Zeit öffnete ein Schlagzeugkollege die Tür. "Savlanut, Deutschland, savlanut!" Sagte er mit einem Lächeln. Savlanut heißt Geduld – aber Deutschland heißt Deutschland, also so heiße ich anscheinend bei einigen Kollegen. Wenn das Kein Beweis meines deutschen Daseins ist….

Ich habe mir mit diesem Eintrag einen Stein vom Herzen entfernt, sowie einen Besuch beim Psychologen gespart. Ich danke Euch dafür.

Gute Nacht aus Tel Aviv,

Euer Ofer

p.s. (ja ja, es geht weiter): Man müsste sich auch fragen, wieso ich meine Band nicht so erwähne als das deutscheste was ich in Eurem Land habe. Das Ding ist aber so – diese Band ist zusammengestellt von lauten Wahlberliner, die eigentlich so wie ich in einer Art ewigem Exil leben. Sogar der einzige Deutsche in der Band kommt aus dem Süden, und hat mit Berlin am meisten zu kämpfen als wir alle, die eigentlich Ausländer sind.

Montag, 17. Mai 2010

Israelisches Tagebuch 28

Die Flügel zitterten ein wenig, der Druck in meinen durch Erkältung verstopften Ohren wurde unerträglich, aus dem Fenster zeigte sich Tel Aviv, die Lichter umgeben von einer Aura die die schweißauslösende Luftfeuchtigkeit verriet. Meine 12 Zaubertage in Deutschland sind vorbei, jetzt erwartet mich meine liebende Frau und lange Proben für die vierte Sinfonie von Mahler, und 35 Grad im Schatten.

Ich spüle aber den Film ein wenig zurück.

Erstmal kam Berlin, kalt, regnerisch, freundlich auf einer Art, die nur Berlinliebende nachvollziehen können. Ich habe mir einen ganzen Tag frei genommen, um durch Prenzlauer Berg, mein altes Zuhause, spazieren zu gehen. Der Helmholtzplatz, das Ludmila Café in der Sredzkistrasse, die freundlichen Alkoholiker die den freundlichen Kiffern beim Tisch-Tennisspiel zusehen, müde, glückliche Mütter mit schicken Kinderwaggons, und ein Duft von Freiheit, echter Freiheit, Berliner Freiheit, halt.

Meine Band und ich haben vier Konzerte in drei Tagen gegeben. Wir hatten die Ehre im "Café Burger" zu spielen, Quelle von guter Laune und feiner Musik in Berlin seit den 30gern, wir gaben ein Konzert in einem halb-legalen russischen Schuppen an der Spree, mit lauten "Daragoj" und "Nastarowia" Rufen, wir haben in einem anderen Club eine wahnsinnige 20ger Jahre Party erlebt, der absolute Höhepunkt war aber zweifelsohne am Samstag, den 8.5, im Babylonkino in Berlin-Mitte. Wir wurden kurzfristig bestellt wegen einer unerwarteten Absage. Und so sind wir am frühen Abend ins Kino gekommen, um auf einer Veranstaltung zu spielen mit dem Titel – "Linke Kinonacht – Tag der Befreiung". Aha.

Als wir in den großen Saal einmarschiert sind lief noch ein Film, nach dem wir hätten spielen sollen. Schwarzweiße Figuren von russischen Soldaten füllten die Leinwand. Mit hellem Schopf, ständig singend, sind sie durch Dörfer marschiert, wo wunderschöne, ebenfalls blonde Mädchen sie mit Blumen zugeworfen haben. Auf einmal – Schreck – ein deutscher Soldat. Einer der russischen Soldaten läuft ihm hinterher, der Deutsche versucht zu fliehen, ist aber durch seine eigene Angst verwirrt und bald stolpert er, und mit einem Blick voller Terror hebt er einen Arm um mögliche Schläge von seinem Gesicht abzuhalten. Der "Iwan" will ihn tatsächlich ein Paar Ohrfeigen geben, dann kommt aber sein Offizier – unverkennbar mit einem gigantischen Stern (der trotz der Schwarzweißversion rot zu schimmern schien) – hielt die Hand, die schlagen wollte, und sagte – "Nein, Kamerad. Wir machen so was nicht." In dem dunklen Kinosaal gab es vereinzelt Applaus, und ich dachte mir – ich bin selber in einem Film.

Der Auftritt war eigentlich gut, beim "Tum Balalaika" haben einige im Saal sogar mitgesummt, und nach spannenden 45 Minuten nahmen wir Abschied von den jungen Kommunisten und den alten SED…. Oh, sorry, Linke-Funktionären, und sind auf das nächste Konzert gegangen. Es lebe Berlin!

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Ein guter Freund der sein Leben zwischen Berlin und München teilt war so freundlich, um seine Pläne so zu gestalten sodass er mich am Sonntag von Berlin nach Nürnberg mitnehmen konnte. Und so bin ich Sonntagabend in meine alte WG in Nürnberg-Johannes reinspaziert. Ach, Nürnberg, mein geliebtes Nürnberg. Die alten Sandsteinwände, das quietschende alte Eingangstür, und die rrrrrrrrollenden Grrrrrrrrrrüße der Frrrrreude - meine alten Mitbewohner - die mir sofort das Gefühl gegeben haben, dass ich Zuhause bin. Und bald saßen wir alle am Küchentisch, und haben über dieses und jenes geplaudert, und ich dachte mir, genau an diesem Tisch saß ich als ich mich für das Studium in Jerusalem beworben habe, oder als ich die Einladung bekommen habe, die Stelle an der israelischen Oper anzutreten. War das echt erst im letzten Frühling?

Aber es sind ja nicht nur meine lieben Mitbewohner, die mir das Zuhausegefühl in Nürnberg geben. Es gibt ja eine Gruppe von Menschen, die sich aus ganz Deutschland (und Holland! Hab die…!) in Nürnberg versammelt haben um gute Musik zu machen und gute Laune zu verbreiten, die verrückt und lieb und laut und lustig sind, die die versautesten Witze reißen (tut mir Leid, ich kann keine Beispiele geben, es ist ja eine öffentliche Internetseite), die es verdient haben, eine eigene nach ihnen benannte Liebe- und Freundschaftsklausel in dem TVK (Tarifvertrag der deutschen Kulturorchester) zu bekommen – ich rede natürlich von der Horngruppe der Nürnberger Philharmoniker. Die Woche, die wir gemeinsam verbracht haben war wahrlich zauberhaft. Wie sehr habe ich es vermisst, meinen Frack anzuziehen und gemeinsam mit diesen mir so teueren Menschen auf die Bühne der Meistersingerhalle aufzutreten. Normalerweise nenne ich bei diesem Blog keine Namen, und normalerweise versuche ich meine unerträgliche südländische Emotionalität unter Kontrolle zu halten, aber – Michael, Stefan, David, Miriam, Steff und Uli, und natürlich auch Frank und Harald – ich habe Euch echt lieb. Und was für ein Hornfest haben wir da gefeiert! Die Alpensinfonie von Strauss, das vierte Hornkonzert von Mozart, und die Kammersinfonie von Schönberg – jedes Hornherz würde aus Freude fast aus der Brust springen bei einem solchen Programm.

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Die Tel Aviver Luft ist feucht und schwer, und ich sitze auf meinem Balkon, esse Wassermelone, und lese das, was ich bis jetzt geschrieben habe.

Oft schreibe ich in diesem Blog über den hohen Preis des Exils, über den Preis den man zahlt wenn man zwei "Zuhause" hat. Aber beim Lesen dieses Texts, verstehe ich wie bereichernd es ist, wie wunderschön es sein kann, mich in Deutschland und in Israel, in Berlin, Jerusalem, Nürnberg und Tel Aviv zuhause zu fühlen. Eigentlich, liebe Freunde, bin ich ein glücklicher Mensch.

Liebste Grüße an Euch alle,

Euer Ofer

Dienstag, 27. April 2010

Israelisches Tagebuch 27

Ich wurde darum gebeten, im Zusammenhang mit diesem Blog über mein Leben zu schreiben. Ich gebe zu, es fühlt sich ein wenig komisch an. Ich habe einen Versuch unternommen, es kam aber dabei einen Lebenslauf heraus der stark an eine Jobbewerbung erinnert, was sicherlich nicht gemeint war. Ich versuche es noch ein Mal, aber jetzt – wie man so schön sagt – I do it my way.

Ich wurde in Jerusalem geboren – und bin, trotz meiner Liebe zu fernen deutschen Städten ein Kind Jerusalems geblieben. Es ist aber ein Jerusalem das nichts mit dem hier und jetzt zu tun hat, sondern ehr ein seelischer Ort, ein Gemütszustand, der sich weniger durch geographische Platzierung beschreiben lässt, viel mehr aber durch Gerüche und Farben, durch Menschen die in dieser Stadt die Nähe zu Gott suchen, und durch das goldene Licht das Jerusalem jeden Abend für eine Stunde wahrlich königlich aussehen lässt.

In der Nachbarschaft meiner Kindheit, "Najot", herrschte jeden Mittag zwischen zwei und vier absolute Stille. Und weh dem Kind das es wagte, draußen auf der Strasse mit einem Ball zu spielen. Sobald so was geschah, ertönte aus einem der Fenster dies eine Wort, das zu dem ersten Baustein meines deutschen Wortschatzes geworden ist. "Schlafstunde!!!"

Und so kann man diese Nachbarschaft beschreiben – eine kleine deutschsprachige Insel mitten im staubigen Jerusalem, die (so wie das Nah liegende Kloster, das ich in einem meiner Beiträge beschrieben habe) mit anderen Orten und Zeiten kommunizierte als mit ihrer direkten Umgebung. Irdische Angelegenheiten wie Krieg (allein in meiner Kindheit gab es drei davon) oder Politik waren den älteren Bewohnern nicht würdig. Begin, Rabin und Sadat? Heine, Goethe und Beethoven!

Die meisten Kinder die mit mir dort aufgewachsen sind haben es geschafft, sich von diesem inneren Exil zu lösen. Der europäische Zauber wohnte in dunklen Gedächtnisecken von Opas und Omas mit einem fürchterlichen Akzent, Ecken, die man gut von der prallen israelischen Sonne behüten musste. Genau aber diese Sonne bevorzugten meine Altergenossen, und so kam es dass während sie draußen Fußball spielten, saß ich zuhause und redete während meiner Übepausen mit den alten Nachbarn, oder viel besser, mit meiner Oma (Die, oh die Schande, aus Jeroslaw kam. "Vielleicht doch aus Königsberg?" versuchte mein Vater was Deutsches aus ihr zu retten als meine Eltern sich kennen lernten). Ihren Geschichten werde ich aber mindestens einen Extra-Beitrag widmen müssen.

Wie viele Kinder aus der Gegend wurde auch ich zum elitären Universitätsgymnasium geschickt. Dort waren die Lehrer sehr verständnisvoll als ich nach langen Konzerten mit dem jungen israelischen philharmonischen Orchester im Klassunterricht eingeschlafen bin. Diese erstklassigen Erziehern, mit denen ich von Gott gesegnet wurde, versuchten uns Kindern stets die Botschaft zu geben – das wichtige im Leben sei nicht Geld oder Militär, sondern viel mehr freies Denken und Menschenliebe. Da zu dieser Zeit in Israel die ersteren herrschten, kam es dass der Löwenanteil meines Jahrgangs unseren Lehrern Recht gab und direkt nach dem Militärdienst das Land verlassen hat.

Die meisten, die sich in Princeton und Stanford oder Indien und Südamerika wieder fanden, suchten nach "neuer Luft", nach einer Atempause von der ermüdenden israelischen Realität. Ich aber suchte nach alter Luft, nach genau den Geschichten der Alten, und als ich die Einladung nach Berlin bekam, war die einzige Frage – wie schnell kann ich dorthin umziehen.

Was ab dann geschah, bleibt dem nächsten Beitrag erhalten. Ich muss jetzt leider los, zur Uni.

An Euch alle einen lieben Gruß,

Euer Ofer

p.s. das mit dem Kommentarenhinterlassen war ernst gemeint…

Samstag, 24. April 2010

Israelisches Tagebuch 26

Ein Kollege aus Nürnberg hat mir mal gesagt, als wir über unseren Beruf geredet haben, die deutschen Berufsmusiker seien "wie die Bergbauer, eine Berufsgruppe die sich seit hundert Jahren nicht verändert hat." Recht hat er. Ich kann es zwar schwer beschreiben, aber wenn man in einem deutschen Orchester spielt, und die Außenwelt anschaut – eine Welt die immer höher, schneller, größer, teuerer sein will – merkt man mit welcher Gemütlichkeit man seinen Beruf ausübt. Die gleichen Witze die die Musiker der Krolloper in Berlin zum Lachen gebracht haben, lassen auch heute junge Musiker in der deutschen Oper grinsen. (Ein Beispiel – was ist ein Kollege? Jemand der das gleiche Instrument spielt, nur ein wenig schlechter.) Man trägt, wie damals, einen Frack, und trinkt Molle und Korn nach einer guten (oder viel Molle und Korn nach einer schlechten) Vorstellung. Man spuckt sein "Toi toi toi" über die Schulter, der Dirigent heißt Kapellmeister, und die älteren Kollegen erzählen von ihren Lehrern die mit Menschen wie Mahler, Strauss oder Schönberg gespielt haben.

Das ist wahrscheinlich der Ort, an dem die Kollision zwischen meiner alten Realität und der jetzigen am stärksten zu spüren ist. An der neuen israelischen Oper, Da-Vinci Strasse, Tel Aviv. Ich möchte nicht arrogant vorkommen, für mich aber ist die Kombination "Oper" und "Israel" schwer zu verdauen. "Oper" ist Deutschland, ist ein Wald aus Bierflaschen nach einer langen Vorstellung von "der Fliegende Holländer", ist Lackschuhe und Rennen durch alte Gänge, in einer Hand die Bühnenmusiknoten von "Tannhäuser", in der anderen den Frackschwanz. "Israel" ist laute Menschen, ist Verkehrsdschungel, ist Hummus auf dem Strand von Tel Aviv, oder die in sich verschlingenden Strassen der Jerusalemer Altstadt. Was soll also eine "israelische Oper" sein? Wie geht so was? Habt Ihr mal versucht, Molle und Korn in 35 Grad zu trinken?

Wäre das eine Filmszene gewesen, würde man sie als "traurig-süß" beschreiben, als naiv. Ich meine mich – wie ich im Orchestergraben sitze und versuche, um mich die Realität zu schaffen die ich aus Nürnberg oder Berlin kenne. Ich klopfe leise auf meine Schenkel wenn ein Kollege schön spielt, ich schreibe "V.S." auf die Noten (bis heute weiß ich nicht, was das heißt) wenn man das Blatt schnell wenden muss, ich unterschreibe die letzte Seite dieser Noten, und möchte die Hand des Kollegen, der neben mir gespielt hat, feierlich schütteln bevor man den Graben verlässt. Dieser Kollege aber, in Israel, hat mich mit großen Augen angeschaut als ich ihm zum ersten Mal meine Hand ausgestreckt habe. "Wie jetzt, gehst Du schon?" hat er gefragt. Traurig-süß.

Und wenn ich in wenigen Wochen in der Meistersingerhalle in Nürnberg meine Fliege vor dem Spiegel zurecht rücken werde, um dann mein Horn zu nehmen und mit meinen guten Freunden die "Alpensinfonie" zu spielen, wird es sich ein wenig wie Heimkehren fühlen.

Ich drücke Euch alle,

Euer Ofer

p.s. ich habe jetzt endlich die Funktion entdeckt die es Euch ermöglicht Kommentare zu hinterlassen. Es gilt auch für die älteren Beiträge. Ich würde mich sehr freuen, sie zu bekommen!