Freitag, 28. Januar 2011

Israelisches Tagebuch 43

Im vierten Stock des "Tacheles" Kunstzentrums in Berlin sitze ich einem jungen Mahler gegenüber. Die Luft ist kühl, man könnte sogar sagen – die Luft ist kalt, ich schaue über dem Kopf des in seiner Kunst versinkenden Mahlers und blicke durch das schmutzige Fenster hinaus. Draußen ist Berlin, grau und unfreundlich, ich sehe nur die Dachrillen des Hauses gegenüber, dunkle, verschwommene Flecken die ich als Raben interpretiere werfen unklare Schatten auf die beschlagene Fensterscheibe.

Der Mahler hebt seinen Kopf, schaut mich mit einem eindringlichen Blick an, und sagt ein kleines, vom russischen Akzent umgebendes "So".

Er dreht das Blatt um, ein schwermutiger Mann blickt mir entgegen, mit roten und schwarzen Farben, und ich erinnere mich daran dass Malerei die wahrhaftigere Kunst ist, zumindest wenn sie mit der Fotographie verglichen wird, sowie die "Klio" von Picasso, die Muse der Geschichte, die in den Spiegel blickend die dunklen Ströme ihrer inneren Gefühlswelt sieht.

Der ernsthafte Blick meines eigenen Bildes begleitet mich den ganzen Tag, die tiefen roten Falten in der Stirn und der schwarze, von dem Mahler erahnte Schatten zwischen Unterlippe und Kinn. Ich bin erkältet und Berlin ist diesmal nicht sehr freundlich zu mir, ich suche nach Büchern für die Uni und werde nicht mal bei Dussmann fündig, "Sie können sie bestellen, aber wir liefern nicht nach Israel," sagt die junge, schwarz gekleidete Dame beim Infoschalter, und ich erahne die auf mich zukommende, nie ausgesprochene und dafür umso heftigere Enttäuschung meiner Doktormutter. Statt Freunde zu sehen muss ich mich im Bett verkriechen und den Schneeflocken zusehen, und wenn mein Fieber sich endlich leicht senkt befinde ich mich wieder auf dem Weg gen Süden, nach Nürnberg.

Lieber Georg aus Tel Aviv verzieht sein Gesicht und spuckt den Namen "Nürnberg" aus als ob allein das Aussprechen dieses Wortes mit heftigen Schmerzen verbunden ist. "Aber wieso ausgerechnet Nürnberg", fragt er, und seine Stimme zerbricht in einer Mischung aus Entsetzen und Flehen. Wieso Nürnberg?

Nun, ich habe im Laufe dieses Tagebuchs schon Einmal ein Lobeslied zu Ehren der fränkischen Hauptstadt geschrieben, also bitte ich hiermit um Verzeihung dass ich es nicht erneut mache. In allen Städten, in denen ich gelebt habe, habe ich versucht ein in den Steinen festgeschriebenes Geheimnis zu entdecken, eine Urwahrheit, ob in Jerusalem, Berlin oder New York. Wer aber ständig nach versteinerten Botschaften schaut, der übersieht die Menschen, überhört sie, und verdonnert sich selber zu einer Isolierung die zwar poetisch wunderschön zu beschreiben ist, gleichzeitig aber eine nicht poetische Einsamkeit erzeugt.

Und Nürnberg?

In Nürnberg suche ich nicht nach Steinen. Ich will gar nicht wissen welche Stimmen sich in den Sandsteinen der Altstadt verfangen sind, ich bin nicht nach Nürnberg gezogen, die Menschen missachtend, um die gebrochenen Überreste von Fragen und Antworten die ich aus Israel mitgenommen habe wieder in Ordnung zu bringen. Diese Stadt, gerade eben weil sie für mich vom Anfang an keinerlei Bedeutung hatte, war der erste Ort wo ich, von meinen blöden Überinterpretationen des "so soll ein Mensch sein" Bildes entkleidet, einfach SEIN konnte. Und auf dieser Ebene habe ich Menschen entdeckt, Freundschaften, die fürs Leben sind. Ich bin immer überrascht wenn ich nach Nürnberg fliege, mit welcher Wärme ich von meinem (ich darf doch so schreiben, oder?) Orchester, den Nürnberger Philharmonikern, empfangen werde, obwohl sie und ich wissen dass es genügend (und bessere) Hornisten in Deutschland leben die bei denen liebend gerne spielen würden. Und doch werde ich von allen Kollegen umarmt, vom GMD bis zu den Orchesterbüroangestellten, von der Horngruppe (samt Familien) ganz zu schweigen. Und wenn ich nach einer Probe in meine alte WG fahre, so ist es als ob die Zeit stillsteht, die Tür geht auf und aus der Küche riecht man das feine Kochen des adligsten Kochs Deutschlands, und ich werde von meinen einstigen Mitbewohnern umarmt, wie eine Familie, wie ein Hafen.

Deswegen Nürnberg.

Neun Tage war ich also in Deutschland, eine Woche davon saß ich zitternd unter einer Decke. Gestern stopfte ich die ganzen Pullis zurück in meinen Koffer, zusammen mit Unmengen von Lebkuchen, und bin zurück nachhause, zu Gili und Ori geflogen.

Und jetzt ist es Freitagabend, gleich fahren wir nach Jerusalem um die Schabbat im Kreise meiner Familie zu empfangen, Gili ist mit einer Freundin Kaffe trinken gegangen, und ich schreibe Euch mit einer Hand, da die andere den Kopf meiner schlafenden Tochter Ori stützt. Sie schaut mich mit großen, grauen Augen an, ihr rebellisches Haar umgibt ihren Kopf wie ein Heiligenschein, und ihre kleinen Hände rudern durch die Luft. Ich sage ihr, ich habe sie vermisst. Es war nicht die Sehnsucht die ich aus anderen Zeiten kannte, als Gili und ich tausende Kilometern voneinander getrennt waren, jene süße, aufregende Sehnsucht, die man immer wieder spürt und doch ist sie immer wieder wie zum ersten Mal da, überraschend und süßschmerzlich. Nein, dieses Mal tat mir meine Seele Weh, so weit weg von Ori zu sein, von diesen kleinen Händen und fragendem Blick. Ich habe sie gestern den ganzen Abend umarmt und ihr ihr Lieblingslied gesungen, "ich weiß nicht, zu wem ich gehöre" von Marlene Dietrich, aber tief im Herzen sagte ich mir – ich weiß ganz gewiss, zu wem ich gehöre.

Seid Alle lieb aus Tel Aviv gegrüßt,

Euer Ofer

Montag, 3. Januar 2011

Israelisches Tagebuch 42

Liebe Freunde,

es ist spät geworden, ich wollte um diese Zeit schon längst im Bett sein, aber in einem Haus in dem ein kleines Baby wohnt gibt es immer was zu tun, was aufzuräumen, zu erledigen, und dazu kommen noch die Berge von Büchern die meine Universitätsprofessoren mir freundlicherweise zum Stopfen meiner nicht vorhandenen Zeitlöcher gegeben haben.

Wieso schreibe ich aber nicht? Wieso benutze ich nicht dieses wunderbare Medium, das an Euch geschriebene Wort, um die mich begebenden Zaubermomente festzuhalten? Davon gibt es nämlich mehr, als man zählen kann. Zum Beispiel letzte Nacht, als ich Gili gesagt habe, Ori wird sowieso bald vom Hunger aufwachen, also soll sie noch ein Weilchen auf meiner Brust schlafen ohne dass wir einen Umstand machen sie ins Bettchen zu bringen. Vier Stunden später bin ich aber selber aufgewacht, senkte meinen Blick, und schaute meine Tochter an, wie sie glücklich schlafend auf mir lag, die Arme rechts und links gestreckt. Oh Glück, oh Freude.

Ich weiß es nicht, ich finde keinen Grund dafür, weshalb ich davor scheue, über Ori zu schreiben. Vielleicht weil dies ein Blog über Israel ist, über Schwierigkeiten und Konflikte, über Ungewissheit und getrübte Zukunft. Ich gestehe – ich habe eine Art Gefühl einer Verpflichtung diesem Blog gegenüber entwickelt, eine gewisse Verantwortung. Nicht nur weil Ihr, meine Freunde, ihn liest – sondern weil andere sich dadurch ein anderes Bild von Israel machen, von Israelis. Weil er vielleicht eines Tages als stiller Beweis dienen wird, Beweis von vernünftig denkenden Menschen, von einer versuchten, in diesem Land selten gewordenen moralischen Haltung Menschen gegenüber. Aber kann ich die Grenzen der von mir gespürten Verantwortung so klar ziehen? Sind sie nicht viel weiter ausgedehnt worden seitdem ich Ori habe?

M. aus Berlin sagte, wenn ein Mensch ein Kind habe, werde seine Präsenz auf der Erde breiter. Ich verstehe jetzt was sie damit gemeint hat. Dieses Gefühl bringt mit sich aber das einfache und klare Verständnis – das Verständnis jenes Unterschieds zwischen 99 Prozent und 100 Prozent Verantwortung.

Und was passiert wenn die eine Verantwortung auf die andere trifft? Wenn die klagende, böses-ahnende die aus meinen Texten hervorgeht sich der anderen, der intimeren und sofortigeren gegenübersteht?

Ihr entschuldigt mich, Ori macht gerade Geräusche und wird gleich wach, und ich will Gili noch ein wenig schlafen lassen.

Seid umarmt,

Euer Ofer

p.s. (ein wenig später) Ori schläft jetzt, und ich böser Jude habe es fast vergessen - Frohes Neues Jahr Euch Allen, Alles Liebe und Gute für 2011, mögen wir uns in diesem neuen Jahr uns öfter sehen!