Donnerstag, 12. April 2012

Israelisches Tagebuch 54 - Zur Debatte über Günther Grass

Es ist als ob man in einem Theaterstück wäre, oder? Jeder hat sein "Part", jeder erfüllt das, was von ihm erwartet wird. Die Dummen sind dumm; die Aufgeschreckten sind aufgeschreckt; die zu drehenden Augen werden gedreht, alles schön pünktlich zur Sonntagsausgabe. Jedes Theaterstück hat aber auch sein Drehbuch, und ich dachte, es wäre an der Zeit es auch an die Öffentlichkeit zu tragen. Wer es jedoch nicht lesen mag, darf gerne zum letzten Teil des Eintrags überspringen.

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"Tabubruch"


Teilnehmer:


Vorkünder

Greiser Poet

Mann auf dessen Fuß getreten wird

Seine Frau


Vorkünder: Meine Damen und Herren, liebe Gemeinde, sehr verehrter Herr Poet. (Er neigt sich fast ungemerkt, aber ganz stillvoll und höflich zu dem greisen Poeten, der mit dem Kopf, ebenfalls fast ungemerkt und sehr klassisch zurücknickt. Ein leises Seufzen kommt von der Bühne, der Vorkünder schaut kurz von dem in seiner Hand feierlich zitternden Papier hoch, lässt seinen Blick kurz auf dem stillen Saal ruhen, um ihn dann wieder zu senken und weiter zu lesen.)

Es sind bewegte, bewegene, ja – weltenbewegene Tage die wir jetzt erleben, man denke an die Grundsätze des Abendlandes, an die Urfragen unserer menschlichen Existenz, wir ja, die den Krieg erlebt haben, dann Frieden, aber dann wieder Krieg! (Er hebt einen zitternden Finger in die Luft) aber dann wieder, Gott sei Dank (er lässt den Finger sinken) wieder Frieden, und noch mal Krieg! (Er brüllt fast, eine fleischige Frau in der ersten Reihe wacht in einem aufgeschreckten Schnarchen auf) Aber jetzt, endlich, Frieden. Ja ja, Demokratie, meine Damen und Herren, Demokratie! (Erneut ertönt ein Seufzen von der Bühne, dieses Mal ein wenig lauter, der Vorkünder, offensichtlich überrascht, legt zuviel Luft in seine Stimme, die Demokratie droht fast zu zerbrechen, er räuspert kurz und fährt fort). Nun ja, also, wer wäre ja besser geeignet als – der Poet! Meine Damen und Herren! Darf ich bitten!

(Der greise Poet schaut in die stille Dunkelheit des Saals, rückt sich mit einem poetischen Schubs hoch vom Sessel und bewegt sich zum Mikrofon. Der Mann auf dessen Fuß getreten wird geht an seiner Seite, ganz dicht, und kurz bevor der greise Poet seine endgültige Position erreicht stellt er seinen Fuß unter den des greisen Poeten. Der Letztere senkt dann den seinigen, worauf der Mann auf dessen Fuß getreten wird ein leises Stöhnen von sich gibt. Der greise Poet schaut ihn an, schaut runter auf seinen Fuß, hebt ihn hoch, will ihn woanders niederlassen, der Mann auf dessen Fuß getreten wird ist aber schneller und stellt seinen getretenen Fuß geschickt unter den des greisen Poeten, und stöhnt. Der greise Poet schaut ihn wieder an, dreht sich erneut zum Saal, rückt seine Brillen zurecht, und hustet höflich in seine Faust.)

Greiser Poet: Vielen Dank, es ist, nun ja, eine Ehre, für Sie, für mich. (Er brüllt urplötzlich) Schweigen! (Die fleischige Dame wacht erneut mit lautem Schnarchen auf, schaut kurz in den leeren Saal um sich, murmelt unverständliche Protestworte, stellt ihr Täschchen auf ihren Schoss, legt ihre Hände darauf, und schaut zur Bühne). Ich bin, meine Damen und Herren, heute morgen aufgewacht, und wusste – heute muss ein Tabu gebrochen werden!

Mann auf dessen Fuß getreten wird: Aber mein Herr, sie stehen auf meinem Fuß, können wir uns bitte kurz damit befassen?

Greiser Poet: Hmmm was? Ach ja. Sehen Sie nicht dass ich gerade dabei bin, ein Tabu zu brechen?

Mann auf dessen Fuß getreten wird: Das habe ich schon gemerkt, aber Sie verstehen, mein Fuß, wenn man schon vom Brechen spricht, schmerzt schon ein wenig…

Greiser Poet: Das ist nicht meine Sache, ich bin ein Poet, und Sie, wissen Sie überhaupt was ein Tabu ist?

Mann auf dessen Fuß getreten wird: Aber mein Herr, ich verbitte mir diesen Ton, nur weil ich in diesem Stück als Mann auf dessen Fuß getreten wird bezeichnet bin heißt nicht, dass ich ignorant bin, was wissen Sie schon, vielleicht bin ich ein Professor der Germanistik, und da weiß man wohl was ein Tabu sei.

Greiser Poet: Sind Sie Professor der Germanistik?

Mann auf dessen Fuß getreten wird: Das tut nichts zur Sache. Ich spüre meine Zehen nicht mehr.

Greiser Poet: Was sind Ihre Zehen im Vergleich mit dem kurz vorm Brechen stehenden Tabu?

(Der Vorkünder erhebt sich halb von seinem Platz, versucht den Mann auf dessen Fuß getreten wird an sich zu ziehen, es misslingt ihm da der Fuß des Mannes unter dem des greisen Poeten steht, er setzt sich wieder und schaut hilflos um sich)

Mann auf dessen Fuß getreten wird: Nun gut, Sie haben eine Minute um Ihr Tabu zu brechen, dann aber widmen wir uns meinem Fuß. Und dabei bin ich äußerst Großzügig und liberal.

Greiser Poet: Ich danke Ihnen. Nun ja. (Wieder wird seine Stimme ganz laut, fast schreiend) U-Boote! (Die fleischige Dame im Publikum hebt ihre Hand und winkt dem greisen Poeten zu. Er versucht, an ihr vorbeizuschauen, da aber außer ihr kein Mensch im Saal sitzt fragt er sie offensichtlich irritiert) Ja, was ist denn?

Die Frau des Mannes auf dessen Fuß getreten wird: Können Sie bitte ein wenig leiser sprechen? Man hört Sie auch so gut genug, und wenn wir schon dabei sind, wieso stehen Sie eigentlich auf dem Fuß meines Mannes?

(Der greise Poet schaut wieder auf den unter seinem Fuß getretenen Fuß, versucht erneut seinen Fuß zu heben und schnell an eine andere Stelle zu bringen. Der Mann auf dessen Fuß getreten wird ist aber schneller, und da der Poet in seiner Hastigkeit seinen Fuß ganz schnell senkt und mit voller Kraft den getretenen Fuß erwischt, entkommt dem Munde des Mannes auf dessen Fuß getreten wird ein kurzer Schrei, wobei er versucht, den greisen Poeten mit einem Lächeln anzuschauen. Dabei ist der Schmerz auf seinem Gesicht gut erkennbar.)

Greiser Poet: Das ist Ihr Mann?

Die Frau des Mannes auf dessen Fuß getreten wird: Sie hätten schon vorher verstehen sollen, dass nicht jeder immer das sei, was anstelle seines Namens im Drehbuch steht.

(Der greise Poet wirkt ein wenig verloren. Er schaut nach hinten zum Vorkünder, dreht sich zurück zum leeren Saal.)

Greiser Poet: Ja, also, wie gesagt, ich breche das Tabu und dann können wir alle gehen. (er schaut zum Mann auf dessen Fuß getreten wird, der seinem Blick ermunternd erwidert. Er dreht sich zurück zum Saal, holt tief Luft) Verehrtes Publikum, lieber Vorkünder, Freunde. Nun. (Kurze Pause) Es gibt auch nette Deutsche!

Der Vorkünder (springt von seinem Platz und applaudiert euphorisch): Bravo! Wunderbar! Wie vortrefflich!

Die Frau des Mannes auf dessen Fuß getreten wird: Sehen Sie. War doch nicht so schwer. (Steht auf, und sagt zu ihrem Mann) Kommst Du?

(Der Mann auf dessen Fuß getreten wird will gehen, sein Fuß steht aber noch unter dem des greisen Poeten. Er versucht ihn ein Paar Mal zu ziehen. Der greise Poet, der von der ganzen Angelegenheit tief erschüttert zu sein scheint, merkt anfangs nichts)

Der Mann auf dessen Fuß getreten wird: Dürfte ich?...

Greiser Poet: Oh ja, selbstverständlich, entschuldigen Sie bitte. (Hebt seinen Fuß vorsichtig. Der Mann auf dessen Fuß getreten wird humpelt die Bühnentreppen herunter, und geht hinter seiner Frau aus dem Saal heraus. Licht aus.)

-Vorhang-

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Was denke ich über die ganze Debatte um Günther Grass, haben viele Freunde gefragt. Was ich davon wohl zu halten vermag. Nun ja.

Mann kann Herrn Grass einiges nicht aberkennen. Er bleibt ein wahrer Künstler, ja ein Weltmeister in Sachen des Vergessenes, des Sich Erinnerns, oder gar des Verschweigens. Und um ehrlich zu sein, ist es mir viel lieber, er sagt endlich was er wirklich denkt und versucht es nicht erst durch den Mund seiner Oma oder seines Sohnes wie im "Im Krebsgang" zu sagen, das fand ich übrigens ziemlich feige. Aber die Äußerung eines wahrlich schon in die Jahre gekommenen Mannes, der seine Abneigung meines Landes gegenüber schon mehrmals zum Ausdruck gebracht hat, sind mir weniger wichtig. Was viel interessanter für mich ist, besteht aus dem wahnsinnigen Echo das seine Worte finden. Vielleicht habe ich deshalb dieses kurze Drehbuch geschrieben. Wer die Figuren sind – da bin ich selber nicht mehr sicher. Sind wir, Juden, so daran gewöhnt dass auf unsere Füße getreten wird dass wir dieses Treten schon selber suchen? Ist es die deutsche Öffentlichkeit? Wie Reflexhaft doch alle reagieren – wie ich schon geschrieben habe, die Dummen, die Aufgeschreckten, und so weiter und so fort. Und bei Dummen meine ich natürlich auch unseren aufgeklärten Innenminister, der Grass die Einreise verbieten will.

Ob ich glaube, Israel liege bei allem was es macht und tut richtig? Wer das behauptet, kennt mich nicht – und hat meinen Blog nie gelesen. Ihr entschuldigt mich dass ich hier aber nicht hinzufüge, "Auch ich glaube dass die Besatzung… und die Siedlungen…. Und die Kriegspläne…". Das ist, im Rahmen dieser Diskussion, unter meiner Würde.

Aber eine Sache ist doch etwas beunruhigend, muss ich gestehen.

Diese Woche ist die 10,000 Tote Marke in Syrien gebrochen worden. In Japan kämpfen Tausende um die Trümmer ihres Lebens, die der Tsunami hinterlassen hat. Russland erklärt, sein Militär wieder "einer Großmacht würdig" zu gestalten, und in Europa droht eins der schönsten Projekte die die Menschheit seit Jahrhunderten geschaffen hat, die Europäische Union, an Visionslosigkeit und politischer Feigheit zu zerbrechen. Und der Herr Grass, und dabei kann es auch ein Herr Müller oder Herr Möllemann oder Herr Schlag-mich-tot (oder vielleicht doch nicht) sieht sich genötigt, die Welt nicht vergessen zu lassen dass wir die Wurzel allen Übels sind.

Das ist das Schöne an Israel. Es kann wahrlich alle Vorurteile auf sich nehmen. Wer zu spät geboren ist, um ´68 gegen den Kolonialismus zu kämpfen, darf es gerne auf unsere Kosten nachholen. Die Jubelperser liefern wir Freihaus. Wer gegen Atommacht demonstrieren will – na bitte, davon haben wir ja auch eine ganze Menge. Wer gegen Menschrechtsverletzung kämpfen will, sollte wirklich nur zu uns kommen. Es ist ja viel bequemer und sicherer in Tel Aviv zu demonstrieren, als in Damaskus, Kairo oder Katar. Prinzipien hin oder her, man will doch auch heile nachhause kommen. Ob und in wiefern es den "Weltfrieden" fördert oder die Debatte darüber bereichert - naja, darum geht es wahrscheinlich gar nicht.

Nur, Herr Grass, eine kleine Korrektur – wir haben wirklich nie gesagt, wir wollen die Iraner auslöschen. Würde zwar zu uns passen, was sind ein Paar Muslime im Vergleich zum Sohn Gottes, aber es sind ehr die Führer des Irans die uns gerne von der Weltkarte verschwinden lassen wollen. Aber wir sind gerne auch für Sie da, Herr Grass, und stehen als die Moralwaschmaschine der Welt bereit. Schmeißen Sie ihre braunbefleckten Erinnerung herein, und sie werden strahlend weiß, wie die Haut einer jungen Zwiebel, wieder herauskommen.

Ofer